Über die NW-Wand auf den Gran Paradiso

Das Feuer in den Augen

Heute lässt das Wetter keinen Zweifel am Gelingen unseres Planes aufkommen. Gegen drei Uhr erhellt die leuchtende Milchstraße das Freilandurinal. Endlich bekommt Frank seine Nordwestwand und wir bekommen unsere Ruhe. Ich freue mich jedenfalls und eigentlich sehr. Nur die verstopften Nebenhöhlen drücken ein wenig aufs Gemüt.

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:



weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Aostatal


Gran Paradiso 4.061m


-/-

-/-


Hochtouren: S         Klettern UIAA: II          Klettersteig: -/-           Schneeschuhe: WT4

1.380m / 1.380m

 10,3km


13h30m

Seit eineinhalb Stunden quäle ich mich nun schon auf dem von gestern bekannten Weg und hinke etwas hinterher. Meine Kameraden glauben schon nicht mehr daran, dass ich es heute noch schaffen werde ihnen zu folgen. Da endlich lösen sich mehrere gelbgrüne Bröckchen von den Bronchien und landen auf dem kalten Harsch. Jetzt läuft der Motor wieder.

Nach zwei Stunden erreichen wir bereits den Umkehrpunkt des Vortages und steigen nach Osten hinab zum Gletscher. Die NW-Wand des Gran Paradiso türmt sich immer höher über uns auf. Wir queren schräg aufwärts, um möglichst bequem die Randkluft den Bergschrund zu umgehen. Die Entscheidung für die Seilmitte unserer Partie war jedenfalls nicht falsch. Frank leistet eine großartige Spurarbeit. Bereits um halb acht Uhr tauschen wir die Schneeschuhe gegen die Steigeisen ein, aber erst um 09:00 Uhr stehen wir 250m höher an unserem selbstgewählten Einstieg und Standplatz auf ca. 3.671m.

Von jetzt an gibt es nur noch den Weg gerade nach oben. Frank bleibt am scharfen Ende des Seils. Berni und ich folgen am laufenden Seil (Männer am scharfen Ende nennen es auch ‚gleitendes‘ Seil). Mit insgesamt drei Tibloc an Bord gibt es viel laufendes Seil und nur wenige Pausen. Abgesehen von Einstieg und Ausstieg erleben wir auf 300m NW-Wand nur einen einzigen Standplatz. Irgendwo um diesen mittleren Standplatz herum verschwindet auch die Schneeauflage und Blankeis tritt zutage. Erst wenn die Waden so richtig abbrennen, weiß man die Leistung des Vorsteigers zu würdigen.

Einmal steckt mein Eisgerät so fest drin, dass ich Bernhard verstohlen nach einem Trick fragen muss, wie ich das Ding wieder aus dem Eis bekomme. „Da wackelt man halt so a bisserl hin und her…“
Nee, ich muss das eine Eisgerät mit dem anderen Beil freipickeln! Wie gut, dass ich bei diesem Stunt stabil stehe. Im weiteren Verlauf bieten die beiden Eisgeräte dafür umso weniger Halt.

Seit 11:00 Uhr strahlt unser Zentralgestirn (das ist KEIN Planet!) in das letzte, obere Wanddrittel. Die Tritte unseres Mannes am scharfen Ende sehen mittlerweile nur noch gut aus und fallen bei Berührung in sich zusammen. „Die Käsescheiblette auf altem, harten Brot“ ist die zutreffendste metaphorische Beschreibung der Wandverhältnisse…

Um 13:00 Uhr sind wir durch die Wand durch. Unser letzter Standplatz in käsigem Schnee würde Pit Schubert sicher als schlechtes Beispiel genügen. Aber wer jetzt denkt, dass das Abenteuer hier bereits endet, der liegt völlig falsch.

Der Grat zum Hauptgipfel ist von zweifelhafter Schneeauflage bedeckt. Am Sprungseil tasten wir uns ganz vorsichtig vorwärts. Jedes Mal, wenn der Schnee nur einen Zentimeter unter der Sohle nachgibt, rutsch einem das Herz bis in die Schuhe. Dann folgt eine schräg nach Osten geneigte Blankeisplatte. Wir sichern und Berni steigt vor. Während er versucht das abgelöste Steigeisen wieder an seinem Schuh zu befestigen, versuche ich im stürmischen Wind die Hardshell überzuziehen. Der eine, erste Ärmel ist ja noch einfach, aber dann…

Den Hauptgipfel überschreiten wir ohne besondere Euphorie gegen 14:48 Uhr. Noch sind wir hier nicht fertig! Die kleine Barbiepuppe auf dem Hauptgipfel ist unter Schnee begraben. Vielleicht hat ihr einer von uns mit einem Steigeisenzacken sanft über das Haupt gestrichen.

Der Madonnengipfel ist jetzt in Sichtweite. Die letzten Bergsteiger verlassen gerade diesen Sehnsuchtsort. Uns trennt davon jedoch noch eine ca. 5m tiefe und 10m breite Gratlücke. Es gilt von einem Stand auf ein Band abzusteigen/abzuseilen, dann sehr ausgesetzt über einige Blöcke hinüber an den Sockel des Madonnengipfel zu gehen, um dann über wenige, letzte Klammern in der Wand die Mutter zu besteigen.

Geschafft! Die ganze Anspannung in uns löst sich. 15:25 Uhr MESZ!

Im pfeifenden Wind halten wir uns jedoch nicht lange auf und unsere Freude zunächst zurück. Der Abstieg über das schmale Band ist jetzt nur noch ein Klacks. Schon seit längerem helfen hier zwei Bohrhaken bei der Sicherung. Jetzt aber gibt es noch mehrere, zusätzliche Spiralhaken, die den sonst üblichen Massenauftrieb an diesem „leichten“ Viertausender möglich machen.

Im Schnee angekommen wechseln wir von Steigeisen auf Schneeschuhe. Frank gibt zur Feier seines ersten Viertausenders jedem ein kleines Toblerone aus. Der Gaumen schmerzt vor lauter Durst. Die letzten Flüssigkeitsreste werden zusammengekratzt. Der weitere Abstieg im wässrigen Schnee wird noch einmal drei Stunden andauern.

Kommen wir zurück zum Eigentlichen. Eigentlich hätten wir heute Abend Risotto gekocht. Die Kraft und Lust reichen jedoch nur noch für Wurst, Speck und Brot, kalt. Eigentlich wollten wir morgen auch ins Val d’Ayas wechseln. Aber eigentlich finden wir heraus, glaubt keiner mehr daran, dass wir unser heutiges Erlebnis bei einer schlichten Gletschertour noch übertreffen können. Das Breithorn springt schließlich nicht davon…

Es ist bereits Nacht. Im gut gefüllten Winterraum schnarcht und summert es vor sich hin. Die Augen brennen. Ich sehe grüne Kringel vor den Augen. Ich Oberdepp habe die Sonnenbrille gestern erst viel zu spät aufgesetzt. Wie spät, traue ich mich hier gar nicht zu berichten. Es fällt mir leicht mich in den Schlaf zu weinen.

Ob ich die ganze Nacht nicht aufs Klo musste, weil ich gestern so viel geschwitzt habe oder weil mir die Augen so derart tränen, werde ich letztlich unbeantwortet lassen.

Erst heute (ich kann wieder sehen) wird mir beim Schreiben dieses Berichts bewusst, wie gewaltig und beeindruckend diese Tour auf den Gran Paradiso war. Nein, sie ist es noch, weil ein kleiner Teil meiner Gedanken, meiner Seele noch immer dort über die Eisplatten und Felstürme balanciert … besoffen vor lauter Glück …


Zing • 30. Mai 2019