SST Hochalplkopf
Der verlorene Autoschlüssel
Das Wetter ist heute dagegen auf meiner Seite und auch auf der vieler anderer Bergsteiger. Um halb neun ist der Parkplatz in Hinterriß schon halb voll bzw. nur noch halb leer. Ein emsiges Pärchen steigt vor mir auf der Forststraße ins Rohntal auf. Das sind bereits zwei Menschen mehr als mein solitärer Charakter um diese frühe Uhrzeit ertragen kann. Ich spurte vorbei und höre sie irgendwann nicht mehr. Ich nun mal ein Misanthrop...
Völlig außer Atem lege ich an der Rohntalalm endlich die Schneeschuhe an und erleichtere mein körpereigenes Gepäck um einige Milliliter Flüssigkeit. Weiter vorne ist noch eine weitere Gruppe unterwegs. Auch einige Schneeschuhe treten dort den Pfad aus. Ich folge ihnen, als mich ein Ruf von hinten ereilt und zum Halten zwingt. Die männliche Hälfte des emsigen Pärchen ruft laut: „Hallo, du hast Deinen Autoschlüssel verloren!“ Kann gar nicht sein. Ich prüfe das mit dem gekonnten Griff eines ehemaligen Turnbeutelvergessers und kann nur antworten: „Nein, meiner ist das nicht.“
So ein gefundener Autoschlüssel beflügelt den Finder ungemein und prompt ist mein schöner Vorsprung vor den Menschen schon wieder dahin. Als sie passieren, frage ich noch nach der Automarke. „Opel“, lautet die Antwort. Vor meinem geistigen Auge läuft daraufhin ein ganzer Film ab:
Ein Tourengeherpärchen, erfroren in Cowboystiefeln, engumschlungen und zusammengekauert, nur mit einem Fuchsschwanz bekleidet im Schatten eines mit meterhohem Schnee bedeckten Opel Manta… Mensch Manni!
Das emsige Pärchen verfolgt nun die Vierergruppe, um denen den Autoschlüssel aufzudrücken. Plötzlich bin ich wieder ganz allein. Auch gut. Gefühlt alle fünf Minuten prüfe ich nun, ob sich denn mein Autoschlüssel noch in der Anoraktasche befindet. Weglaufen kann er ja eigentlich nicht…
Ziemlich erschöpft erreiche ich nach zweieinhalb Stunden Gesamtgehzeit den Hochalpkopf. Die anderen vier wollten den Opelschlüssel auch nicht. Es werden Pläne geschmiedet. Alle Opel in Hinterriß ausprobieren! Den Schlüssel im Wirtshaus hinterlegen! Ich solle jeden, den ich treffe, fragen ob er denn nicht der Besitzer eines Opels sei und seinen Schlüssel vermisse. Ich erwäge bereits die Gründung einer entsprechenden Facebook-Gruppe „Autoschlüssel im Rohntal gefunden“. Als die emsigen Autoschlüsselfinder den Gipfel wieder verlassen genieße ich noch ein paar Minuten das Alleinsein und die Ruhe, die nur vom Ruf eines Adlers unterbrochen wird.
Übrigens, damals vor acht Jahren, im dichten Schneetreiben, da war es auf diesen schmalen Karwendelbuckel fast noch schöner. Ein wolkenloser Himmel kann auch ganz schön fad sein…
Die Sonne huscht im Hochwinter rasch über den tiefen Talboden des Rohntals. Die letzten Lichtstrahlen drücken sich noch an der Östl. Karwendelspitze vorbei, bevor sie vom Fels ihrer Südwände vollständig absorbiert werden. Es reicht noch für ein paar letzte Fotos. Eile ist geboten, denn nach Sekunden ist die besondere Lichtstimmung für immer und ein Jahr vorbei.
Ich quatsche noch etliche Leute wegen des Autoschlüssels an. “Nein, ich bin kein Gebrauchtwagen-verkäufer, aber ein Pärchen hat einen Autoschlüssel gefunden, den sie jetzt an allen Autos im gesamten Rißbachtal ausprobieren, um ihn dann doch im vermutlich geschlossenen Wirtshaus zu hinterlegen. Und falls das Wirtshaus doch geöffnet hat, müssen die zwei vorher sicher einen PCR-Test machen, damit sie überhaupt rein dürfen und dem Wirt, oder der Wirtin, die Geschichte vom verlorenen Autoschl… hey, nicht weglaufen! Nun hör mir doch mal zu!"
„Hey, hast Du nen Opel und Deinen Autoschlüssel im Rohntal verloren?“