Rumble in the Karwendel - Tag 2
Anders als gedacht auf den
Gr. Bettelwurf
Solchen kognitiven Fehlleistungen mag ich heute keine Beachtung schenken. Ich denke eher darüber nach, wie Drea und ich heute die Bettelwurfüberschreitung hinbekommen. Denn gestern war schon Klettersteig, dann ist heute auch Klettersteig und Andrea mag Klettersteig...
In der Gaststube werden Handys umhergereicht. Auf jedem Handy ist zwar eine andere Wetter-App installiert, aber die Prognose ist insgesamt und nahezu einhellig düster. In der Nacht ist ein Frontensystem herangezogen. Schauer, Regen und sogar Gewitter stehen im Raum. Optionen werden diskutiert. Strategien werden entworfen. Pläne werden geändert. Mein Einwand, dass jede der Apps eine starke abweichende Eintrittswahrscheinlichkeit anzeigt und auch der Zeitpunkt des Eintretens des Wetterereignisses nur mit einer Genauigkeit von +/- drei Stunden vorhergesagt werden könne, bleibt nahezu ungehört. Nur eine jüngere Frau aus dem fancy Damenclub nimmt den Ball auf und stempelt mich sofort als Mathematiker ab. Sie selbst hat ... habe irgendetwas mit Kommunkation oder Wissenschaft studiert. Kommunikationswissenschaften? Wissenschaftskommunikation? Egal, ich beeindrucke die Bachelorette noch mit einer kurzen Abhandlung über die Faltungsoperation von Wahrscheinlichkeitsdichten, wende mich dann wieder meinem Kaffee zu und betrachte das Treiben größtenteils schweigend.
Bettelwurfanwärter entscheiden sich gegen den Aufstieg. Das fancy Damengrüppchen entscheidet sich für den weiten Abstieg ins Tal. Andere wollen zuerst abwarten und dann entscheiden. Wieder andere können es gar nicht mehr abwarten und entscheiden sich spontan. Langsam leert sich die Stube. Draußen nieselt es. Zugegeben, drinnen wäre das auch höchst ungewöhnlich...
Während wir beratschlagen, wie wir den Tag auf der Hütte totschlagen könnten, entdecken wir den berühmten Silberpfeil am Horizont. Es wird doch noch a bisserl schön. Einer der Hüttenhiwis hält mir sein Handy unter die Nase und behauptet, dass wir mitten in einer Gewitterzelle stehen.
Wir wollen es doch probieren. Es muss ja nicht die Bettelwurfüberschreitung (D, I) sein. Vielleicht genügt die Wetterberuhigung dennoch für den normalen Eisengatterweg. Wir müssen aber sehr wachsam sein. Das Eisengatter ist ein hervorragender elektrischer Leiter!
Mit strammen Schritt ziehen wir zielstrebig los. Andreas Schwung erscheint mir jedoch ein wenig gebremst. Als wir den Eisengattergrat erreichen und die ersten etwas etwas ausgesetzteren Meter überwinden, geht es dann nicht mehr weiter. Drea ist heute doch nicht ganz fit. Vielleicht ist sie wetterfühlig und hat die herannahende Wetterfront schon in den Knochen? Sie entscheidet sich umzukehren. Ich biete an, sie zurückzubegleiten. Andrea aber lässt mich ziehen.
"Ist das wirklich in Ordnung für dich?"
"Ja, geh nur!"
"Pass bloß auf dich auf!"
Da sind wir nun, der Eisengattergrat und ich. Eine dreiviertel Stunde wird es noch bis zum Gipfel dauern. In geschicktem Zickzack geht es elegant am Drahtseil aufwärts. Die Angelegenheit ist kurzweilig und für mich nicht wirklich schwierig (A,I). Aber eins sei hier gesagt:"Helm auf!"
Die Aufheiterung ist von föhniger Natur. Mit zusammengekniffenen Augen suche ich den Horizont nach dunklen Wolken ab. Da ist noch nichts. Als ich durch die letzte Rinne zum Grat aufsteige bläst der Föhn enorm. In einer Scharte weht er besonders streng. Ob ich die letzten Meter zum Gipfelkreuz bei dem Wind überhaupt schaffe? Erstaunlicherweise lässt der Wind bei Verlassen der Scharte sofort nach. Das Gipfelkreuz des Gr. Bettelwurf steht in der Sonne und wirft seinen Schatten auf den kleinsplittrigen Karwendelbruch. Oben!
Eine halbe Stunde allein auf dem Gipfel ersetzt 30 Tage Jahresurlaub. Ich fühle mich leicht und bemerke, wie der Kopf ganz schnell frei wird. So wie das Sonnen-licht diffus durch die hohen Schleierwolken scheint, so stellt sich in mir eine diffuse Zufriedenheit ein. Ich könnte noch ewig hier sitzen bleiben, aber hinter der Zugspitze und aus den Stubaier Alpen heraus ziehen dunkle Wolken auf. Der Abstieg ist nicht mehr hinauszuzögern.
50m vor der Bettelwurfhütte treffen mich die ersten Regenspritzer. Drea wartet wohlbehalten in der Stube und trinkt heiße Schokolade. Gute Idee! Gleich kopiert!
Draußen regnet und stürmt es. Nur Blitz und Donner bleiben aus. Naja, die hatten wir ja schon in der Wetter-App. Wir spielen Karten. Ganz schwieriges Thema!
Gegenüber nehmen drei junge Däninen Platz. Wenn denen der Würfel vom Tisch kullert, bückt sich eine von ihnen, um den Würfel wieder vom Boden aufzuheben. Ich lerne die Vorzüge einer blickdichten Damenwanderlegging schätzen. Hätten die drei doch bloß so ein Beinkleid!
Aber nein, ich muss in die Abgünde dänischer Seelen blicken.
Das Blumenmuster hinter der verschlissenen Sitzfalte werde ich wahrscheinlich nur mit therapeutischer Unterstüzung vergessen können...