Rumble in the Karwendel - Tag 1
Absamer Klettersteig
Zum Glück bekommen wir in den Hütten noch Matratzenlager angeboten, aber es geht sich wirklich ganz knapp aus. Grundsätzlich würde ich in der Zeit um Mariä Himmelfahrt nicht so eine Tour unternehmen. Das macht dann nämlich jeder. Vielleicht ist wenigstens das Wetter schön, jetzt, im sonnigen August…
Mein Arbeitstag endet heute schon 09:30 Uhr und ich fahre schnell rüber zum Bahnhof, um Drea aufzugabeln. Dank 9-Euro-Ticket konnte sie das Leben in vollen Zügen genießen. Ihr Reisebericht klingt zumindest dramatisch.
Wir sind beide froh, dass jetzt eine entspannte Autofahrt ins Inntal beginnt. Erst kurz vor Hall i.T. müssen wir schon wieder raus: Toilettenpause! Drea schenkt mir ihren 50-Cent-Wertbon. Juhu! Wobei ich ja finde, dass das Bezahlen eines Espressos mit dem Pippi-Billet anderer Personen einen gewissen Beigeschmack hat…
Und wenn wir gewusst hätten, dass am Wanderparkplatz oberhalb von Absam ein kostenloses Toilettenhochhaus auf uns wartet, dann hätte Drea auch noch einhalten können. Nun ja, 50-Cent-Wertbon!
Wir marschieren los und sind guter Dinge. Drea bekommt die Sony RX100 umgehängt und wird dazu verdonnert die B-Roll zu fotografieren, damit wir zuletzt wenigstens ein paar Farbfotos von der Tour haben. Auf dem ersten, nur gering geneigten Wegstück gibt es ausreichende Gelegenheit mit den Knipsen zu üben – nicht dass ich das nötig hätte – und wir ahnen noch nicht wie sich dieser Tag entwickeln wird.
Ein einer Stelle wird das Tal enger und der Wanderweg trifft auf die parallel verlaufende Teerstraße. Der Asphalt glüht. Die Straße ist hier sehr steil, ca. 20%. Aber das ist bald vorbei und wir gelangen wieder in den Schutz der Bäume. Bald schon erreichen wir den Abzweig zum Absamer Klettersteig. Man kann ihn kaum verfehlen.
Eine Schuttreiße muss überquert werden, ein paar steile Kehren im Schutt überwunden werden und dann steht man schon am „Anseilplatz“. Der Blick auf’s Topo verät: Das wird eine länger Geschichte. Es gibt verschiedene Strategien, eine solch lange Route anzugehen. Drea nimmt das höhere Gewicht in Kauf und trägt fast 3 Liter Wasser im Rucksack mit. Ich setze auf Leichtigkeit und nehme nur 1,5 Liter Wasser mit. Das Endergebnis dieses Selbstversuchs kann mit Spannung erwartet werden…
Die Schlüsselstelle des Klettersteigs ist mit einem Schlüssel als solche gekennzeichnet. Eine ca. 18m hohe, immer steiler werdende Wand kurz nach dem Einstieg soll schwächere Aspiranten gleich in ihre Schranken verweisen. Die Schwierigkeit wird im Topo von bergsteigen.com mit C angegeben, könnte m.E. aber auch ohne Übertreibung mit C/D bewertet werden. Wer das nicht packt, sollte hier lieber umkehren, denn danach geht es erst richtig los, mit dem Absamer Klettersteig.
Viele Quergänge warten auf uns. Einige weite, steinschlaggefährdete Rinnen müssen überquert werden. Immer wieder gelangt man an abdrängende Passagen, die Konzentration und auch Krafteinsatz fordern. Und das Schlimmste ist, der Klettersteig will einfach kein Ende nehmen.
Anfangs ist mein Schwung kaum zu bremsen. Klar ich habe ja auf den leichteren Rucksack gesetzt. Und trotzdem, irgendwann ist die Ausdehnung des Absamers einfach nur noch ernuchternd. Band folgt auf Steilstufe und Steilstufe folgt auf Band. Nur das Glücksgefühl vorwärts oder aufwärts zu kommen will sich einfach nicht einstellen. Bald ist der Vorsprung des Fotografen vor Drea auch auf Null zusammengeschrumpft. Meine Leistungskurve bekommt einen Knick. Wo bleibt eigentlich diese Felsbrücke?
Endlich, wir kraxeln über die Felsbrücke und das fühlt sich eine kurze Zeit an, wie ein Gipfelsieg. Es endet dennoch nicht, nicht hier und auch nicht hinter dem nächsten Eck. Ein seitlich abzweigendes Grasband ist mit Fixseilen zu einem Rastplatz ausgebaut worden. Wir rasten kurz. Ich trinke den letzten Schluck Wasser. Drea will unbedingt weiter, weil wir es ja bestimmt bald geschafft haben. Und wieder folgt Platte auf Felsstufe und Felsstufe auf Platte. Dann endlich scheint das Ende des Klettersteigs erreicht. Auf den letzten Metern überholen uns noch zwei Einheimische. An einem Rastplatz legen sie Helm und Geschirr ab. Wir machen es ihnen nach, weil das Gelände vor uns leichter aussieht und wir es bald geschafft haben.
Die beiden legen eine Spurt hin. Wir folgen auf einem markierten und etwas anspruchsvolleren Wanderweg (T3+), als der Weg nach rechts in gelbe Felsen abbiegt. Ein Drahtseil? Na ja, so etwas kommt auch auf den allerbesten Wanderwegen vor. Dann aber Stifte und Klammern. Ehe ich mich versehe, befinden wir uns in einer weiteren, steilen und hoffentlich letzten C-Stelle des Klettersteigs, und das ohne Helm und ohne Gurt...
War das so im Topo eingezeichnet? Ja, war es tatsächlich. Der kurze Abschnitt Gehgelände misst im DIN A4-Topo gerade einmal 5mm.
Was jetzt folgt, ist in der Tourenbeschreibung eher dem unangenehmen Kleingedruckten zuzuordnen. Von hier aus soll es noch eine Stunde bis zur Bettelwurfhütte dauern! Meine Leistungskurve droht mittlerweile in den negativen Bereich abzurutschen. Ich kann nur noch wenige Meter am Stück durchgehen und muss dann schon wieder verschnaufen. Krämpfe plagen mich ebenfalls. Andrea geht es etwas besser. Irgendwann beschließen wir, dass sie vorgeht und das Abendessen in der Hütte sichert bzw. rettet. "Lass mich einfach hier und rette Dich selbst!" Langsam gewinnt Drea Vorsprung, nicht etwa, weil sie bedeutend schneller wäre als ich , sondern weil sie einfach etwas weniger langsam vorangeht...
Stunden später... Ich biege in die Zielgerade ein. In der Stube verteilen sie gerade das Abendessen. Endlich ausruhen. Wie viele Schorle habe ich jetzt gerade auf ex getrunken? Immer wieder plagen mich Krämpfe. Die anderen schauen mich ganz selsam an, wenn ich mit schmerzverzerrtem Gesicht im Suppenteller liege. Man integriert mich trotzdem.
Eine recht große Gruppe junger Damen spielt lautstark Karten. Drea klärt mich auf, dass die aus Mücnchen seine, weil die bestimmte Schlüsselworte der dortigen Jugendsprache einsetzen: nice, random, fancy, so rule ... Ich finde das gar nicht so schlimm und passe mich gerne an. Allerdings struggel ich noch mit dem korrekten Einsatz der gebeugten Anglizismen an den richtigen Stellen...
Auf der Sitzgelegenheit des Trennklos ist es dann an der Zeit für ein kurzes Resümee. Könnte stimmen, dass ich die Länge der Tour unterschätzt und zu wenig Wasser dabei gehabt habe. Dennoch, früher war ich auch nicht so zimperlich! Oder werde ich etwa alt? Klettersteige sind eh nicht so mein Ding. In den Absamer Klettersteig sollte man auf jeden Fall früher einsteigen, als wir es getan haben. 14:00 Uhr ist zu spät. Alles aufgeheizt. Und dann noch die schweren Rucksäcke für die Mehrtagestour...
(Ca. 6 Wochen später werde ich erfahren, dass ein ernsteres Gesundheitsproblem die Ursache für meine häufiger werdenden Leistungseinbrüche ist. Hier auf der Bettelwurfhütte kann ich das aber noch nicht ahnen - ein Zing wird niemals krank - und muss daher von einem Planungsfehler ausgehen.)
Matratzenlagerzeit. Ich drehe mich auf die Seite, als Andreas Stimme aus dem Off mich belehrt, das auf der Seite schlafen total ungesund sei. Ich solle unbedingt einmal die youtube-Videos von Hinz und ... aber da habe ich mir schon den Gehörschutz in die Ohren gesteckt.
Mit offenen Augen starre ich nun in die Dunkelheit und denke über mein verpfuschtes Leben als Seitenschläfer nach, während das Schnarrchen der übrigen Insassen die alten Holzbalken der Bettelwurfhütte erzittern lässt.