Reichenspitze und Kuchelmooskopf
Schneeschuhe im Grenzbereich
Meine Erwartungshaltung am Samstag um 06:00 Uhr an Paco war die, dass er bereits in Linie mit Rucksack und Skiern vor der Haustüre angetreten zum Morgenappell auf mich wartet. Sein Wecker hat keine Schlummerfunktion! Nur gut, dass es nicht der Bräunungstimer in der Sonnenbank war...
Wir fahren zu zweit dem großen Gebirge entgegen. Einer fehlt. Ja, der Berni hat angeblich eine andere Verpflichtung. Wir lassen unseren unkontrollierten Spekulationen freien Lauf und kommen zu folgenden Spitzenreitern, die wir als Grund für seine Absenz akzeptieren könnten:
3. MPU,
2. Arbeit, auch schwarze,
1. die eigene Hochzeit.
Über dem Doppelendrohr eines getunten Ford Locus prangt ein Aufkleber mit der Aufschrift "Fuck U Greta". Lieber nochmal aufs Gaspedal getreten und schnell die Umweltsau überholt...
Die Verkehrslage ist erfreulich entspannt. Ohne Stau durchs Zillertal, durch den Zillergrund und bis zur Bärenbadalm. Keine Maut (im Winter) und sämtliche Lawinenschranken sind geöffnet. Sonst würde der Anstieg bis zur Plauener Hütte wirklich sehr lang werden.
Wir haben einen Schlachtplan: Ganz schnell auf die Hütte und heute noch weiter zur Reichenspitze. Morgen, am Sonntag dann auf Wildgerlosspitze und kurz noch zum Kuchelmooskopf, anschließend über das Zillerkees zurück zum Karren. Der Plan war an sich gut...
Erste Zweifel kommen auf, als das Hinweisschild zur Plauener Hütte drei Stunden Dauer ausweist, im Sommer! Bis zur Staumauer kommen wir jedoch recht gut vorran. Paco verfängt sich lediglich in Sträuchern und ich breche bis zu den Achselhöhlen im Schnee ein, aber sonst ... alles gut.
Dann aber, nachdem wir den Tunnel bei der Mauerkrone durchschritten haben, wird es ernst. Mein Kamerad kommt auf den Skiern gut vorran und zieht davon. Der nach rechts abschüssige Weg macht mir mit den Schneeschuhen jedoch zu schaffen. Irgendwie bin ich froh, als wir zur Hütte nach links abbiegen. Lieber steil bergauf als dauernd am Hang entlang.
Wir müssen nun die Steilstufe des vor uns liegenden Trogtals überwinden. Paco faselt irgendwas: "...esser...u...immst.....ickel....und.....ne.....Sch....sch..ue..." "Hä?"
Ich durchkreuze seine Zickzacklinie direkt und schwenke nach rechts in die Querung ein. 'Geht doch super. Was hat er denn?', denke ich auf den nächsten 15m. Dann wird mir mein Fehler schlagartig bewusst. Es ist steil hier. 45°! Eine dünne Schmodderschneeschicht auf hartem, eisigen Untergrund. Mit der Angst kommt auch die Unsicherheit. Ich entledige mich der Sch....sch.... und eiere die 15m zurück, ja steige sogar ein Stück in flacheres Gelände ab.
Ah jetzt, die Sch....sch... werden im Ucksack verstaut. Mit Ickel und Eigeisen geht es dann über die Crux dieses Hüttenzustiegs. Am Ende wartet Paco schon am Ende des Seils. Das hat er an einem Mast der Materialseilbahn befestigt. Das Seil hilft und dennoch bin ich fix und feddich. 50m inkompressiblen Schnees saugen die letzte Kraft aus den Gliedern. Am Fixpunkt angekommen kann ich nur feststellen, dass wir es heute nicht mehr bis zur Reichenspitze schaffen werden. Zeitüberschreitung!
Paco zieht davon und gräbt schon mal den Winterraum aus. Als ich eintreffe ist das Gröbste erledigt. Er bricht auf, um uns noch eine 1h-Spur in Richtung Reichenspitze zu legen. Ich kümmere mich ums Feuer und teste dabei auch gleich den Rauchmelder. Geht!
Ein Bild an der Wand? Aha, das Klo ist nicht in diesem Haus. Zum Glück zeigt die erste Tür, die ich ausgrabe, in einem halben Meter Tiefe bereits ein Herz.
Winteraumfakten Plauener Hütte:
6 Lager mit Kopfkissen und Decken (alles eher eng),
Tische, Stühle, Bänke,
ein Holzofen und Brennmaterial,
Töpfe, Teller, Tassen, Besteck und ein paar in die Jahre gekommene Nudelsuppen,
Toilette in der Abseite zum Seilbahnschuppen.
Winterraumromantik. Ich falle in einen leichten Schlaf und träume von einem Sägewerk an einem rauschenden Bach. Als ich mitten in der Nacht wach werde, schnarcht mein Kumpel und ich muss dringend aufs Klo. Nach einer solchen Hüttennacht weiß man wieder zu schätzen, dass man daheim barfuss aufs Klo schlappen und bei offener Tür die Aussicht genießen kann.
Der nächste Tag. Paco hat ein Einsehen. Es stehen nur noch Reichenspitze und Kuchelmooskopf auf dem Programm. Das klingt gleich viel einfacher, ist es aber nicht. Pacos 1h-Spur ist gut, hilft meinen Schneeschuhen jedoch kaum. Der Schnee ist fluffig und ich kann nur schwer mithalten.
Der junge Tag experimentiert mit allerlei Farben am Himmel. Zum Schluss bleibt eine hohe Schleierbewölkung übrig.
Als wir das Kuchelmooskees erreichen, seilen wir uns an. In einem eleganten und fragezeichenförmigen Schwung gewinnen wir das obere Firnbecken. Die Scharte, die man im Sommer ansteuert, lassen wir nun links liegen. Wir steigen auf einer Schneerampe so lange auf, bis es nicht mehr geht. Dann geht es zu Fuß weiter über eine flache Kuppe auf eine Geländeschulter und zuletzt unschwierig (I) auf den Gipfel.
Was soll ich sagen? Schaut euch die Bilder an. Die Aussicht ist überwältigend. Damals, im Sommer vor 29 Jahren, konnte man nicht so weit sehen. Gab es damals eigentlich schon die Dolomiten?
Der strenge Wind lädt leider nicht zu längerem Verweilen auf der Reichenspitze ein. Beim Materialdepot treffen wir drei vereinzelte Tourengeher. Mehr Menschen werden wir hier und heute nicht begegnen.
Wir gewinnen den Firnsattel und schwenken auf den Kuchelmooskopf zu. Paco zischt ab. Mir geht die Luft aus. Ich muss öfter vorgeben zu fotografieren, um Luft schnappen zu können. Wir treffen uns doch noch am Gipfel. Neben der abermals grandiosen Aussicht können wir auch unser Gesamtwerk der vergangenen beiden Tage von oben bewundern. Wir haben unsere Spuren hinterlassen in dieser einsamen Bergwelt. Bald schon werden die stummen Zeugen unserer Taten vom Winde verweht sein...(gleich rutsche ich auf meinem eigenen Schmalz aus)
Skifahrer sind schneller unten, gar keine Frage. Ganz kurz, aber wirklich nur für eine Nanosekunde, denke ich über die Anschaffung von Skiern nach... Mit Schneeschuhen ist man hier jedenfalls im Grenzbereich des Möglichen unterwegs.
Für den Abstieg von der Staumauer empfiehlt sich übrigens eine lohnende Variante. Man geht über die Mauerkrone nach Süden und läuft auf der Begrenzugsmauer des Überlaufs weiter. Wenige Meter danach trifft man auf einen Fahrweg. Bis auf das vermutlich illegale Überklettern eines Törchens ist dieser Weg bequemer als der Sommerweg.
Rückfahrt. Als ich Paco abgeladen habe, kann ich nach zweieinhalb Stunden endlich wieder Luft holen. Das Brennen in den Augen lässt schnell nach. Ich werde ab sofort Fabrikant von Skischuhdeodorant...