Pfitscher Joch Trilogie - Hohe Wand

Glück gehabt!

Ich bin total gerädert, als ich am Morgen zum synchronen Klang der Handy-Wecker aufwache. Nein, ich wache gar nicht auf, denn dazu müsste man ja irgendwie geschlafen haben. Vielleicht haben ja die von meinen durchaus hübschen Zimmerlagerkameradinnen ausgeschwitzten Pheromone meinem Eidechsengehirn ein einen Streich gespielt und den dringend benötigten Tiefschlaf verhindert…

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:

weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Zillertaler Alpen - Tuxer Kamm


Hohe Wand 3.289m

-/-

Pfitscher-Joch-Haus


Wandern: T5       Klettern UIAA: I        Klettersteig: -/-         Hochtour: L

1.120m / 1.120m

14,8km


08h35m

Was ich heute unternehme, wollte ich eigentlich davon abhängig machen, wie ich geschlafen habe und wie ich mich fühle. Während ich beim Kaffee so vor mich hindenke, oder auch nicht, werde ich immer mutiger. Herumgammeln an der Hütte geht mal gar nicht. Ich könnte den Kraxentrager machen. Das sind von hier ca. 8 Stunden. Oder den Hochsteller, das wäre immerhin ein Dreitausender. Auf dem Schrammacher war ich schon. Wäre vielleicht auch ein bisschen viel? Als der letzte Schluck Kaffee alle Vorbehalte wegspült, wird es dann die Hohe Wand.

Völlig übermotiviert leiste ich mir noch am Pfitscher Joch den ersten Verhauer. Mussten wir damals auch erst absteigen, um zum Stampflkees aufzusteigen? Die aufdringlichen Wegmarkierungen leiten mich zumindest hinab. 524? Nee, das kann nicht sein! Ein Blick auf das Navi verrät, dass ich auf dem besten Weg zur Olpererhütte bin. Zurück! Und dieses Mal ignoriere ich die wilden, roten Pfeile auf den Felsen. Ich folge müde meinem Instinkt und dem Rücken mit den zahlreichen Grenzsteinen.

Von Bequem geht es gleich zu Blockgelände über. Farbtupfer fehlen völlig und nur viele verschiedene Steinmänner lassen verschiedenste Möglichkeiten entdecken. Die ruhige Oberfläche des kleinen Sees an der Schneescharte beruhigt zunächst meine schlaflose Seele, bevor ich das Stampflkees betrete. Gegenüber 1993 hat es deutlich an Masse verloren. Auch das Stampflkees ist auf dem besten Weg zu Toteis zu werden…
Wenn ich bloß wüsste, wie man das aufhalten kann. Das Kreuzchen auf dem Wahlzettel alleine ändert ja noch nicht viel…
Ich biege ab in die Flanke der Hohen Wand. Schutt, Gletscherschliff und wieder Schutt. Die paar Schneefelder beschleunigen kaum etwas. Steinmänner sind nicht immer eindeutig. Zwei Schritte vor und einen zurückgerutscht. Ich bin mehrere Male kurz davor, einfach umzukehren und die Hohe Wand eine hohe Wand sein zu lassen. Mit viel Schimpfen und Jammern schaffe ich es dann aber doch in die Gratsenke zwischen Nord- und Südgipfel.

Hier verlieren sich die wenigen Spuren im Schnee. So recht ist mir nicht ganz klar, wie es über den Blockgrat weitergehen soll. Ich befreie mich von den Stöcken und versuche es dann. Da ist noch ein Rest von Spur, eher ein einzelner Tritt. Das muss jedoch älter sein. Der Schnee ist gefroren und bietet wenig Halt. Die Blöcke stehen im Weg und eine kurze, schnelle Linie ist nicht möglich. Trotzdem komme ich langsam aber stetig voran.

Ich blicke auf die letzten Meter zum Gipfel und will schon antreten, da zieht es unter mir beide Füße weg. Ich verliere den Halt. Noch im Stürzen fällt für den Bruchteil einer Sekunde mein Blick auf den weit entfernten Boden unter der NW-Wand der Hohen Wand. Mit beiden Händen greife ich nach der Kante des Blocks. Die Füße hängen da schon frei über dem Abgrund...
Als ich wieder auf dem Block knie überprüfe ich zuerst, ob die Kamera etwas abbekommen hat, völlig bescheurt...
Die eigene Wahrnehmung schaltet endlich wieder von Zeitlupe auf Echtzeit um. Ich stehe halbwegs sicher auf beiden Beinen. Der ganze Körper zittert. Millionen von Gedanken schießen durch meinen Kopf. Es dauert schon ein paar Minuten, bis ich wieder klar denken und entscheiden kann. Geschätzte 30 Meter fehlen mir noch bis zum Gipfelkreuz. (Der GPS-Track offenbart später, dass es nur noch 22m waren.) Ich lasse das Gipfelkreuz ein Gipfelkreuz sein und lasse das für mich als Besteigung der Hohen Wand gelten. Mir ist schon klar, dass das einige hikr-Athleten nicht durchgehen lassen werden, aber wenn ich das jetzt nicht als Besteigung gelten lassen, dann muss ich irgendwann noch einmal hierher. Noch einmal werde ich kaum so viel Glück haben…

Wieso denke ich in so einer Situation eigentlich darüber nach, was irgendwelche hikr denken könnten? Egal, ich habe ja auch schon den ganzen Tag dieses Ra-Ra-Rasputin im Kopf. Das die Ösis aber auch nochmal Boney M. aus dem Disco-Grab exhumieren müssen. Naja, vielleicht hätten sie mich ja auch aus dem Gletscher unter der Hohen Wand exhumieren müssen. Ist exhumieren eigentlich richtig? Es müsste doch dann eher exglacieren lauten, oder?

Nachdem ich es wieder bis in die Scharte geschafft habe, begegnet mir noch ein Südtiroler Ehepaar. Sie sind wenig gesprächig, weil sie so schnell laufen müssen, in Halbschuhen. Den Schrammacher haben sie heute schon gemacht und die Hohe Wand ist für sie nur noch ein Beifang. Ich sehe sie später am Gipfelkreuz stehen. Gipfelkreuz und Grabkreuz liegen oft nahe beieinander…

Adrenalin und die Fähigkeit zur Verdrängung sind gute Begleiter während des weiteren Abstieges. Erst in der kommenden Nacht wache ich aus einem Alptraum auf, bei dem die Hände nicht mehr die Kante des Blocks greifen konnten…


Zing • 23. September 2021