Pelmo
Grober Klotz oder sanfter Riese?
Hinter dem Berg, also genauer gesagt jenseits des Campolongopasses, ist das Wetter gleich viel schöner. Schöner, nicht wärmer. In Arraba hat das Hotel Wolf noch geöffnet. Die Pizza Wolf schmeckt köstlich. Ich wusste gar nicht, dass der Schinken von Carnivoren so gut schmeckt ... ach, der war vom Schwein, das der Wolf neulich ... auch nicht? ... egal! Hat geschmeckt und Kaffee können die Italiener sowieso immer gut!
Auf der weiteren Fahrt zum Staulanzapass halten wir noch oft an und bestaunen die massiven Sturmschäden aus dem November 2018. Ganze Berge bzw. deren Bewaldung sind großflächig umgeknickt. Die großen Gipfel wie Civetta oder Pelmo stehen aber zum Glück noch immer an Ort und Stelle. Wir durchfahren pittoreske Dörfer, halten endlich auf den Staulanzapass zu und unsere Köpfe wandern immer weiter in den schmalen Winkel zwischen Windschutzscheibe und Armaturenbrett, um die ganze Größe des gewaltigen Pelmo erfassen zu können. Endlich erreichen wir nach vielen Kehren und mit mehrfach überdrehtem Genick den Staulanzapass.
Die Rucksäcke werden gepackt und ein letztes Mal zurechtgestopft. Jeder hat mindestens 4½ Liter Wasser dabei. Für einen darfs aber auch ein Flascherl mehr sein. Immerhin müssen zwei Übernachtungen mit Frühstück und Winterraumvollpension abgesichert werden. Die üblichen Landkarten und auch das Internet versprechen nur wenig frisches Wasser am und um den Pelmo herum.
Wir wollen, nein, wir müssen heute noch zur Veneziahütte. Die liegt vom Staulanzapass aus gesehen quasi auf der anderen Seite des Pelmo. Also umrunden wir den Pelmo so wie die Tibeter ihren Kailash und erreichen nach einem angenehmen Auf und Ab noch vor Sonnenuntergang die Hütte (2:15h, 7,6km, ↑346m, ↓170m, T2).
Das Wetter bessert sich von Minute zu Minute. Die Sonne verabschiedet sich mit einem roten Feuerwerk. Noch einmal Schlafen - im Winterraum - und dann geht es auf zum Pelmo.
Wir wachen am nächsten Morgen auf. Irgendwie fühle ich mich nicht ganz so gut. Ein Blick vor die Tür verrät den Grund dafür. Der Himmel ist grau verhangen und ein unangenehmer Wind weht aus Norden.
Meine Kameraden lassen sich von solchen Befindlichkeiten natürlich nicht abhalten und ich ergebe mich dem Gruppenzwang in mein Schicksal.
Der Einstieg in das Ballband ist nach ca. 15 Minuten bereits erreicht. Die 'Attacco'-Beschriftung ist bereits von Wind(!) und Wetter verblasst, aber ein leuchtend roter Pfeil auf dem Fels zeigt an, dass es ab jetzt nur noch nach oben geht.
Nun gut, daas stimmt nicht ganz. DIe erste IIer-Stelle wird noch in Aufwärtsrichtung gewonnen, doch dann schwenkt man bereits in die Waagerechte des Ballbandes ein. Wir bewegen uns nach Süden. Rechts Wand nach oben, links Wand nach unten, dazwischen oft weniger als ein ca. 30cm breiter Felssims. Wir finden sogar einige Schlag- und Bohrhaken. Man könnte am laufenden bzw. gleitenden Seil gehen. Wir verzichten in Anbetracht von Rost und Zeitverlust darauf.
In der weiteren Folge des Ballbandes sind insgesamt drei markante schluchtartige Einschnitte zu queren. Die ausgesetzten Stellen sind mit Fixseilen versehen, die aus der Ferne eher wie Hanfstricke aussehen und bei näherem Hinsehen auch schon recht verwittert sind. Die Sanduhren, an denen die Fixseile z.T. befestigt sind, sind oft nur mittelfingerdick. Es genügt zum Festhalten. Einen Sturz sollte man hier jedoch völlig vermeiden.
Nach ca. einer Stunde verlassen wir endlich die beklemmende Enge des Ballbandes. Um einen Pfeiler herum öffnet sich das Gelände und gibt den Blick auf den weiteren Anstieg in Schutt und Geröll frei. Der unangenehme und kalte Wind frischt nochmals auf. Eine Windrichtung lässt sich hier im Felsenkessel nicht ausmachen, ebenso wenig wie der Zeitpunkt des Auftretens einer hinterhältigen Windböe. Mich trifft es öfter und zwar immer dann, wenn nur ein Fuß auf dem Boden und einer in der Luft ist. Irgendwann denke ich sogar ans Umkehren...
Irgendwie habe ich den oberen Rand der Schuttflanke doch erreicht und winde mich über eine Felsstufe (I). Oben angekommen, erwarten mich die Kameraden bereits im schneegefüllten Kessel, der von Spalla Sud, Hauptgipfel und Spalla Est umrahmt wird. Welch ein Wunder, die hohen Wolken verziehen sich und der Wind flaut ab. Ich wittere wieder Morgendämmerung...
Steinmänner, sehr zahlreiche Steinmänner, zieren den weiteren Weg zu einer höher gelegenen, großen Felsplatte, die einerseits den Einstieg in den Schlussanstieg markiert und andererseits den Blick in die Ferne und die gewaltige Tiefe freigibt. Es ist jetzt bereits fast windstill. Die Luft ist klar. Wir können neben der Marmolada sogar die Königspitze ausmachen...
Ich klammere mich mit letzter Kraft an den Fels und versuche auf der mit Eis übergossenen Felsplatte unter mir Halt mit den Schuhen zu finden. Die Sohlen rutschen auf dem glasigen Nass. Ich spüre, wie mir langsam die Kraft ausgeht. Frank redet mir gut zu. Das hilft. Irgendwie, ich weiß nicht mehr wie, schaffe ich es dann doch Millimeter für Millimeter das schräg abfallende Band zu überwinden. Den Gedanken an den Rückweg verdränge ich jetzt lieber mal.
Im Sommer, bei trockenem Fels wäre der Schlussanstieg fast ein Kinderspiel. Aber das Sandwich aus Schnee, Eis und Fels mahnt uns zur Vorsicht, selbst an einfachen Gehpassagen.
Bald ist ein markanter Felssporn erreicht. Der Blick in die Nordwand des Pelmo wird zum ersten Mal freigegeben. Das ist gewaltig und tief, gewaltig tief!
Eine letzte, kleine, ca. 2m hohe Felsstufe stellt sich uns in den Weg. Uns wird bewusst, dass Dolomiten IIer viel härter sind als übliche IIer. Ich wurschtle ein Bein irgendwie über die Kante und verdränge den Gedanken an den Abstieg erneut. Wir erreichen mit wenigen Schritten im Schnee den Gipfel des Pelmo. Von hier aus kann man fast die gesamten Dolomiten überschauen. Nur der Blick auf die Drei Zinnen ist verstellt. Ich vermute sie hinter der Sorapiss.
Beim Abstieg lasse ich mich gerne ins Seil nehmen. Die trügerische Sicherheit beflügelt die Schritte. Ich werde wieder über die Mitte der Felsstufe gescheucht. Alleine würde ich es etwas weiter außen probieren. Dort schaut es kurze Haxen leichter aus.
Das Eis auf dem schrägen Felsband wurde von der Sonne bereits aufgeweicht. Wir erreichen wieder das plattige Plateau unter dem Gipfelgrat.
Mit einer neuen Abstiegsvariante ohne Steinmänner werden meine Nerven nochmal auf die Probe gestellt. Man hätte einfach den Aufstiegsspuren folgen sollen.
Der Abstieg über die lose Schuttflanke erfolgt fast leichtfüßig. Trotzdem kommt doch noch der Rückweg über das Ballband. Hier ist wieder volle Konzentration gefordert. Zumindest bin ich nicht zu feige, hier von meiner Angst zu sprechen. Auf dem Ballband benötigt man ein gesundes Maß an Angst, um nicht leichtsinnig oder überhastet zu agieren. Fehler verzeiht das Ballband nämlich nicht. Wenn du hier fliegst, dann landest du erst wieder am Fuß der Wand im Schutt.
Die Hütte ist wieder erreicht. Bernis gepimptes Risotto aus der Tüte schmeckt vorzüglich.
Als der letzte die Stirnlampe ausschaltet, liege ich noch lange wach im Schlafsack. Ist der Pelmo nun ein sanfter Riese oder ein grober Klotz? So einfach lässt sich das nicht beantworten. Auf jeden Fall ist der Pelmo auch auf seinem Normalweg ein anspruchsvoller, anstrengender Berg, aber er ist auch wunderschön...