Mit der Erlkönigin auf die Regalmwand
Nicht nachmachen!
Am besten wird es sein, allen Lesern dieses Berichtes zu raten, das nicht nachzumachen, also sowohl diese Tour als auch die Veröffentlichung eines Tourenberichtes darüber. Nochmal: Nicht nachmachen!
Das Mautmännchen schläft noch, als ich heute die Wochenbrunneralm erreiche. Freie Parkplatzwahl. Das kurze Stück bis zur Gaudeamushütte lege ich im Halbschlaf zurück. Ich erinnere mehr im Traum als bewusst daran, dass es hinter der Hütte auch einen Weg nach oben geben soll. Erst als sich ein Umkehren nicht mehr lohnt, bemerke ich meinen Fehler. Das Navi zeigt nur einen schwach gestrichelten Weg an. Tatsächlich ist die vorhandene Wegspur weniger als schwach erkennbar und auf keinen Fall mehr gestrichelt. Das Gelände wird immer steiler. Das verrottende Laub der vergangenen zwei Jahrhunderte macht die Sache nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich. Nicht nachmachen!
Leicht verunsichert und bereits stark erschöpft erreiche ich endlich wieder Wanderweggelände. Es geht weiter und die Fotomotive werden zahlreicher. Leider ist der Himmel noch immer einfach nur stahlblau. Den Samstag hatte ich eigentlich wegen der versprochenen vorhergesagten Wolken ausgesucht. Hoffentlich wird’s noch ein bisschen schlechter…
Ab der Wildererkanzel wird der Wanderweg etwas alpiner (T3). Man gewinnt jedoch auch schnell an Höhe und kommt den Felsen des Ostkaisers immer näher. Geschickt leitet der Weg durch das unübersichtliche Schrofengelände und schwenkt dann schlagartig nach Norden auf das Kleine Törl zu (Gildensteig). Gämsen werden aufgeschreckt. Mutter und Kind werden getrennt. Das helle Gemecker des Kleinen ist unüberhörbar in den steilen Trichtern. Als ich eine Grasschulter erreiche, erscheinen vor mir das Kleine Törl und den Abzweig zur Regalmwand. Im nächsten Talkessel unterhalb laufen eine kleine und eine größere Gams aufeinander zu. Wiedervereinigung!
Der Helm wird aufgesetzt und die Stöcke am Rucksack angebunden. Los geht es über zwei erste Kehren durch die Schrofen. Da plötzlich taucht ein weißes Hindernis auf. Ein steileres Schneefeld ohne erkennbare Begehungsspuren überdeckt eine tiefe Rinne. Auf der anderen Seite wandern die roten Markierungen fröhlich weiter nach oben.
So ähnlich muss das ausgesehen haben, als Berni vor 10 Wochen verunglückt ist. Grödel oder Steigeisen habe ich nicht dabei. Auf die Idee, es einmal mit den Stöcken zu probieren, komme ich in meiner leichten Panik nicht.
Und plötzlich steht Berni neben mir und grinst mich an. „Hey, Master Zing, alter Freund und Kupferstecher!“
„Berni, Du bist doch gestorben. Du kannst gar nicht hier sein, oder doch?“
„Du weißt doch: Ich bin jetzt überall.“
Mit einem einzigen Schritt wechselt auf die andere Seite des Schneefeldes.
„Ist doch easy! So macht man das. Aber:
Nicht nachmachen!
Du Depp musstest ja vorhin beim letzten Schluck Kaffee deine Grödel wieder aus dem Rucksack nehmen.“
„Das kannst Du doch gar nicht wissen“, rufe ich ihm zu.
„Du weißt doch: Ich bin jetzt überall.“
Dann wird er von den den Felsen verschluckt und lässt mich allein mit meinem Schneefeldproblem zurück. Ich resigniere und kehre zunächst um. Ich male mir aus, wie es wäre noch vor Mittag schon wieder daheim zu sein. Wie lange es wohl dauert, bis das Schneefeld abgetaut ist? Heute wird das jedenfalls nichts mehr. Ich stehe wieder an der Grasschulter.
Und wenn Du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo ein Lichtlein her.
Eine Gestalt in Form einer Frau bewegt sich sehr rasch auf mich zu. Als auch Sie die Grasschulter erreicht, kommen wir ins Gespräch. Ich erzähle ihr von dem unüberwindbaren Schneefeld. Nach einigem Hin und Her schlägt Sie vor: „Sollen wir mal zusammen schauen? Vielleicht geht es ja doch.“ Ich stimme zu und folge ihr unauffällig. Vor dem Schneefeld hält auch sie inne. Mit einem Fuß prüft sie die Konsistenz des Schnees. „Das geht schon. Da nehmen wir jetzt die Stöcke dazu und dann klappt das schon.“ Eigentlich wollte ich den Rucksack gar nicht mehr abnehmen, aber das Argument mit den Stöcken überzeugt mich.
Etwas ängstlich schaue ich der Erstüberquerung des Schneefeldes zu. Alles geht gut. Ich folge in den Trittspuren. Kurz vor dem besseren Ende des Schneefeldes sagt sie noch: „Da ist es hohl drunter. Da musst Du aufpassen, um nicht einzubrechen.“ Super, und das bei meinen 2t Lebendgewicht…
Nicht nachmachen!
Das Schlimmste ist geschafft. Über Schrofen geht es spielerisch, jedoch nicht einfach, weiter. In einer engen Rinne muss man noch einmal einen seltsamen, seitlichen Zug absolvieren (I+). Der Fels ist hier noch feucht.
Dann stehen wir auch schon in einer Nische vor dem 2m-Wändchen. Die Stecken werden deponiert und meine Zufallsbekanntschaft klettert elegant über die mit UIAA II bewertete Stelle empor. Ich gebe da sicher ein weniger geschicktes Bild ab. Die kleine Wand fühlt sich für mich auch eher wie ein boulder move an, ca. fb3/4A. Man greift in der Mitte in einen riesigen Henkel und muss dann einen Fuß in Hüfthöhe auf einen schmalen Sims wuchten. Dann wird es etwas leichter. Kleiner Hinweis:
Nicht nachmachen!?
Schneller als gedacht, stehen wir nach wenigen Minuten auf dem eigentlich kreuzlosen Gipfel. Zwei dünne Holzleisten bilden hier ein improvisiertes und eher zweifelhaftes Gipfelsignal.
Die Wolken vermitteln ein wechselvolles Lichtspiel und geben oft nur für wenigen Sekunden den Blick auf die anderen stolzen Kaisergipfel frei. Nebenbei erfahre ich, dass die Retterin meiner Bergtour in Erl wohnt. Also hat mich heute die Erlkönigin auf die Regalmwand geführt!
Der Abstieg bereitet keine weiteren Schwierigkeiten. Einige Regalmwandaspiranten kommen uns jetzt doch entgegen. Klar, es ist schließlich ein Schönwettersamstag. Mit großem Sachverstand erklären wir jedem, der es nicht hören will, dass es jetzt eine Spur über das Schneefeld gibt…
Beim kurzen Abstecher zum Baumgartenköpfel mit seiner Bergdoktorbank habe ich dann doch noch einen kleineren Bergunfall und das kommt so: Eine pummelige Jugendliche blockiert ungeschickt eine felsige Wegstufe. Ich erwähne das nur, damit jemand anderes an meinem nun folgenden Missgeschick die Schuld trägt. Ich versuche der wieselflinken Erlkönigin bei der Umgehung der Pummeligen zu folgen. Dabei schlägt mein weit geöffneter Meniskus mit vollem Schwung an eine Felskante. Zwei Schmerzwellen laufen in entgegengesetzter Richtung durch meinen Körper. Die eine Schmerzwelle erfährt im großen Zeh eine Totalreflektion. Das andere Schmerzwellenbündel wird über das Rückenmark zunächst von unten in den Schädel geführt, wird dort mehrfach reflektiert, um letztendlich als kohärenter Schmerwellenstrahl zur Quelle zurückzukehren. Dort treffen sich nun beide Schmerzwellen wieder und verstärken sich in konstruktiver Interferenz.
Nicht nachmachen!!!
Danach geht es ohne größere Zwischenfälle zurück zur Alm. Wir tauschen Kontaktdaten aus und ich bin entzückt darüber, dass die Erlkönigin meinen komplizierten, echten Vornamen auf Anhieb fehlerfrei ins Handy tippen kann.
Disclaimer aus besonderem Anlass:
Wer nicht in die Berge geht, muss auch nicht aus unpässlichen Situationen gerettet werden.
Also: Einfach nicht nachmachen! (gilt besonders für Lehrer und/oder Schüler)
n.b.
Die Serie "Nicht nachmachen" enstand im Sommer 2022, als eine 100 Schüler starke Gruppe vom Berg gerettet werden musste, weil das Lehrpersonal einen hikr-Tourenbericht nicht korrekt interpretieren konnte. Irgend so ein selbsternannter wichtiger Hikr hat sich dann auch noch an meiner Satire "Nicht nachmachen" gestört und deshalb schreibe ich jetzt mein eigenes Tagebuch, in dem außer mir niemand etwas kommentieren kann...
n.b.2
Als dieser Tourenbericht auf hikr.org veröffentlicht wurde, hatte ich noch ein "Mopsgesicht" eingebaut, quasi eine Falle, um die kommentierenden Wutbergsteiger zu testen. Anstelle von Regalmwand stand dort Regalmspitze. Die Regalmspitze ist doch etwas schiwieriger und offengestanden ein Bruchhaufen. Es gab sehr viele Kommentare zu diesem Bericht. Man hat sich über das Für und Wider von Tourenberichten ausgelassen. Der "Nicht nachmachen"-Hinweis wurde zerrissen, aber auf den wirklich entscheidenden Fehler wurde erst nach fünf Tagen von einem Kameraden hingewiesen. Das war der Punkt, an dem ich mich entschieden habe "mein eigenes Internet" zu eröffnen.