Klettertour Leonhardstein - Flora Bohra

Jenseits der eigenen Fähigkeiten

… Der Unterarm schmerzt. Der Daumen bleibt gebeugt. Auch Willenskraft hilft nicht weiter, um den Daumen abzuspreizen, so wie es eigentlich der Vorzug eines jeden Primaten ist bzw. sein sollte. Ich lasse mich erneut im Seil hängen und richte den Daumen mit der nun freien, rechten Hand auf. Das funktioniert. Nur als Versuch starre ich wieder auf den nun aufgerichteten Daumen und beuge ihn erneut. Da ist er wieder der Schmerz im Unterarm und der Daumen lässt sich auch mit höchster Konzentration nicht wieder zurück in die Ausgangsposition bewegen.  Also schnell wieder die Unpässlichkeit korrigieren. Die letzten Meter bis zum Ausstieg werde ich irgendwie auch ohne linken Daumen schaffen. …

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:

weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Bayerische Voralpen


Leonhardstein 1.452 m

-/-

Kreuth - Parkplatz Nummer 3


Wandern: T3       Klettern UIAA: VI        Klettersteig: -/-         Schneeschuhe: -/-

620m / 620m

-/-


09h00m


Prolog:

Unheilvoll klingelt das Telefon am Freitagnachmittag. Paco’s richtiger Name wird angezeigt. Wahrscheinlich gibt es jetzt einen riesigen Anschiss, weil ich ihm Minuten zuvor per SMS eine größeren Osterausflug wegen beruflicher Verpflichtungen absagen musste.
Der Anschiss fällt aus. Das Verständnis überwiegt. Und dann macht Paco den Vorschlag mich am kommenden Sonntag durch die Flora Bohra auf den Leonhardistein zu führen. „Da sind nur ein paar 6er Stellen“, „du musst ja nur nachsteigen“ und „ich helfe dir über die schweren Stellen von oben“, argumentiert er. Klingt zwar spannend und trotzdem bitte ich mir aus, darüber eine Nacht schlafen zu dürfen.
 
Beim direkt anschließenden Nachmittagslauf ist mein Kopf überhaupt nicht mehr bei der Sache. Bei der Rückkehr fällt die Dusche auch zunächst aus. Ich studiere zuerst Topos und Fotos auf bergsteigen.com und schaue mir ein youtube-Video an, bei dem zwei Herren letztendlich nach der 6. SL umkehren. Ich schlafe schlecht.
Am nächsten Morgen sieht die Welt nach zwei Kaffee schon wieder anders aus. Ich denke mir, dass Paco schon weiß was er tut und mit Bernd und Tobi wäre sogar ein zweite (Rettungs-)Seilschaft dabei.

„Do something every day that scares you!“

Ich sage Paco und der Flora Bohra auf Umwegen über Berni zu.

 

Sonntag, der 28. März 2021:

Am Parkplatz bemerke ich, dass ich vorhin beim Umsteigen den Anorak vergessen habe. Ganz toll, „Zing, der Turnbeutelvergesser“. Ein zweiter Pulli aus dem Rucksack muss her. Das muss reichen. Regnen soll es ja an diesem sehr sonnigen Sonntag nicht.

Ich beuge mich dem Gruppenzwang und wir lassen auch die Schneeschuhe im Auto zurück, weil auf dem Parkplatz und den ersten Metern der Forststraße zur Schwarztennalm kein Schnee liegt.
Erst als wir später nach rechts abbiegen, bereue ich die Entscheidung mit den Schnee-schuhen. Die anderen reden sich das dagegen schön. Wir spuren abwechselnd durch die morsche Harschdecke. Nur Tobi, unter den Bergsteigern ein Lepton, ja fast schon ein WIMP, schwebt über den Harschdeckel. Wir anderen haben das Nachsehen.
 
Der weitere Zustieg nach Verlassen der tief verschneiten Forststraße und die dazu notwendige Umrundung des Leonhardisteins sind schon ruppiger. Zudem beginne ich zu glauben, das Berni heimlich Salz aus den Hosentaschen auf seine Tritte streut. Immer wenn ich in seine Fußstapfen trete, breche ich bis zu den Knien ein…

Ein markanter Baum und damit der Einstieg in die Flora Bohra sind erreicht. Ich schaue hinauf in die steilen Felsfluchten und mir wird ganz anders, auf jeden Fall nicht wohler.


Paco steigt mit mir an der langen Leine voraus, Bernd und Tobi oder auch Tobi und Bernd folgen uns in überschlagendem Vorgehen.  In der ersten SL fühle ich mich fast schon wohl, obwohl ich auch meinen enormen Trainingsrückstand – war seit einem halben Jahr überhaupt nicht mehr beim Klettern – bemerke. So könnte es von mir aus gerne weitergehen.


Paco steigt in die 2. SL vor. Es geht sofort mit einer unangenehmen Platte (6-) los und mir als Sicherndem ist viel wohler, als er die ersten beiden Zwischensicherungen eingehängt hat. Dann läuft das Seil wieder flüssiger, so wie ich es von Paco gewohnt bin, durch meine Hände. Ich schummle mich im Nachstieg über die Platte, klammere mich an winzige Vertiefungen im Fels, greife nach Grashalmen und erreiche schon etwas desolater den zweiten Standplatz. Es will nicht enden. Auch die dritte SL ist plattig und wartet mit einer (6-)-Stelle auf. Von wegen: „Da sind nur ein paar 6er Stellen!“

Die Krise steht steil vor mir, der steile Riss, ca. 5 – 6 m im sechsten Grad. Meine Hände finden kaum noch Halt. Etliche Male muss Paco mich immer wieder halten, weil entweder die Füße oder die Hände keinen Halt finden. Er hat ein paar Schlingen für mich in die Zwischensicherungen gehängt. Mit letzter Kraft und völlig überfordert klammere ich mich an diese „Notnägel“. Und immer wieder gelange ich nur wenige Zentimeter höher, Paco macht zu und die Seildehnung lässt mich wieder wertvolle Millimeter verlieren. Nach dem Riss geht es etwas flacher über eine gutmütige Schuppe (5). Den Genuss dabei verspüre ich jedoch nicht mehr. Ich zittere am ganzen Körper und bin völlig außer Puste. Als der Karabiner der Selbstsicherung in das weiche Auge einrastet, fällt eine Tonnenlast von mir. Nur Paco macht wieder einen aufmunternden Spruch. Wie gut, dass er heute so ruhig und sicher ist.


Es folgen, zu meiner Erleichterung, zwei angenehmere SL. Sicher ist auch Paco erleichtert, dass ich hier wieder selbst klettern kann. Die Fingerlöcher in den Platten stehen schon weit auseinander. Eine Wasserrille leitet höher. Das ist interessant und lenkt mich von der Steilheit meiner Umgebung ab.

Wir stehen am Ende der 6. SL, dort wo die beiden Youtuber umgekehrt sind. Paco überhört meine beiläufige Bemerkung dazu geflissentlich. Aus der Nummer komme ich also nicht mehr raus. Solange mir aber auch niemand sagt, dass ich aufgeben soll, wird auch nicht aufgegeben. Und die nächste Seillänge wird auch die schwierigste werden.


An einem Fixseil klettert Paco nach rechts raus an den Fuß eines Risses. Wenn Paco vorsteigt sieht das alles immer so leicht und auch gar nicht steil aus. Ich versuche mir seine Tritte und Griffe zu merken. Umsonst, meine cognitiven Fähigkeiten reichen nur noch von 12:00 Uhr bis Mittag. Der steile, etwas verwinkelte Riss ist schwierig. Pacos Körper zittert kurz, dann aber hat er seine Faust im Riss verklemmt und ersucht sich ganz lässig ein paar Tritte, die ihn mit einer plötzlichen Leichtigkeit höher befördern. Den möglichen Zwischenstand will er den auch auslassen und gleich weiter in die Verschneidung. Zum Glück sind Berni und Tobi zur Stelle und überzeugen ihn, den Zwischenstand zu benutzen. Es wäre einfach zu viel Seil über zu viele Umlenkungen draußen, wenn er mich unterstützen müsste. Und hier brauche ich seine Unterstützung. Paco baut einen Flaschenzug ähnlich zur Spaltenbergung auf. Anders ginge es hier nicht mehr für mich weiter. Meine Faust ist zu klein für den Riss. Ich greife in nassen Schlick. Der Schuh rutscht. Ich hänge zweimal frei in der Luft. Der Flaschenzug funktioniert und so gelange ich langsam aber voller Furcht höher. Die aller letzten Meter zum Zwischenstand schaffe ich dann aus eigener, spärlicher Kraft. Paco hat hiermit seine erste Big-Wall-Erfahrung und ich bin von nun an „Zing, the fatty haul bag“.

Ganz überstanden ist das Drama immer noch nicht. Der Zwischenstand ist lausig klein, mit viel Luft unter dem Hintern. Beim Umbau der Sicherung ruckt es kurz in der Selbstsicherung. Mein Herz rutscht durch das Loch in der Hosentasche.


Die folgende Verschneidung ist Pacos Welt. Das ist seine Spezialität. Und wenn man ihm so zusieht, dann könnte man meinen, das sei ganz einfach. Nee, ist es nicht. Ich bediene mich gerne der hinterlassenen Schlingen und greife auch mal zwanglos in die Expresse. (Espresso, das wär jetzt was!) Mit allerletzter Kraft schaffe ich es irgendwie durch die Verschneidung. Danach soll es ja deutlich leichter werden…


Pustekuchen, bevor es leichter wird gilt es noch eine 2 m hohe, glatte Stufe zu überwinden. Paco faselt noch was von ‚ganz leicht‘, ‚ein bisschen rechts‘ und ‚toller Hintergriff‘. Dann ist er auch schon verschwunden und ca. 45 m Seil sind raus. Tja, da wird es wohl wirklich leichter, da oben. Ich stehe jedoch dumm vor der 2-Meter-Wand, finde keinen Halt und federe in dem nun fast gänzlichen gestreckten Seil bis zum Ausgangspunkt zurück. Von oben zerrt ein ungeduldiger Paco am Seil. Von unten drängen Tobi und Bernd zum Aufstieg. Bernd hängt mir eine Schlinge in die erste Expresse. Ich komme nur Zentimeter vorwärts. Als ich die erste Exe aushänge federe ich wieder bis zum Standplatz zurück. Dann steigt Tobi vor und hängt die Schlinge von der 1. Zwischensicherung in die 2. Zwischensicherung um. Berni schiebt mich nun an meinem empfindlichsten Gleichgewichtsorgan nach oben. Endlich bekomme ich den Hintergriff zu fassen und kann über die Kante steigen. Das Drama ist jedoch noch nicht zu Ende. Paco bekommt sicher nur wildes Rufen mit und zieht immer kräftiger am Seil. Mein Anseilknoten ist schon in den Karabiner der 2. Exe eingezogen. Ich drohe wieder über die Kante in die Tiefe zu stürzen…


Endlich kann Tobi sich verständlich machen und der Seilzug von oben lässt nach. Durch relativ einfaches Gelände, gelange ich zu Paco und einem gut ausgebauten Standplatz, an dem man leider im Schnee stehen muss. Es sieht aber alles ganz richtig aus. „Jetzt kommt nur noch der Ausstieg.“ Wie das so üblich ist, steigt Paco vor, berät jedoch unerwartet ins Stocken. Das ist deutlich schwerer als die vom Topo vorhergesagte 5-. Vermutlich sind wir falsch. Tobi und Berni kommen nach und wir vollführen unseren letzten Stunt. Tobi soll Paco auf dem Verhauer folgen. Berni soll die richtige Route führen und ich ihm folgen. Das ganze Hin und Her der Reorganisation von zwei Seilschaften gelingt zum Glück ohne Unterbrechung der Sicherungsketten. Jetzt bin ich Bernd ausgeliefert. Lediglich über einen einzigen Zwischenhacken und mein Gegengewicht (Zing, the counterweight) abgesichert steigt er zum Wandbuch vor und trifft dort auf die beiden anderen Kameraden. Am schlaffen Seil steige ich nach und endlich ist das Ende absehbar. Nur noch eine Seillänge…


Nur noch die Rinne, nur noch 5-. Aber mein Körper hat noch eine letzte Überraschung für mich übrig. Gerade nachdem ich einen markanten Klemmblock passiert habe, fährt mir ein Stechen und Ziehen in die linke Hand. Der Unterarm schmerzt. Der Daumen bleibt gebeugt. Auch Willenskraft hilft nicht weiter, um den Daumen abzuspreizen, so wie es eigentlich der Vorzug eines jeden Primaten ist bzw. sein sollte. Ich lasse mich erneut im Seil hängen und richte den Daumen mit der nun freien, rechten Hand auf. Das funktioniert. Nur als Versuch starre ich wieder auf den nun aufgerichteten Daumen und beuge ihn erneut. Da ist er wieder der Schmerz im Unterarm und der Daumen lässt sich auch mit höchster Konzentration nicht wieder zurück in die Ausgangsposition bewegen.  Also schnell wieder die Unpässlichkeit korrigieren. Die letzten Meter bis zum Ausstieg werde ich irgendwie auch ohne linken Daumen schaffen.
Berni ist schon sauer, weil das alles so lange dauert und er in Kletterschuhen im Schnee am Stand warten muss. Probleme haben die Leute!

Die Drei hocken schon am Gipfelkreuz. Ich ziehe mich langsam, etwas im Abseits um bzw. befreie mich vom Kletterzeugs. Alles ist leer. Mein Kopf ist leer. Meine Muskeln sind leer. Mein Magen ist leer und bald auch meine Wasserflasche.


Vielleicht nehmen die mich nie wieder auf so eine Tour mit, denke ich noch mit einer letzten, funktionierenden Synapse. Weit gefehlt! Bei Tobis leckeren Haferkeksen (Haschkeks?) phantasiert Paco schon von der nächsten 6er-Klettertour. Erst nach dem ersten Bissen in den Keks, frage ich nach, ob der vielleicht Haselnüsse enthält. Ein anaphylaktischer Schock würde dem Tag jetzt eine unerwartete Wendung verleihen…
Ich erkläre noch das Panorama. Das kann ich wenigstens etwas Belangloses zu dieser Tour beitragen. Allerdings sind mir wichtige Namen wie z.B. ‚Seekarkreuz‘ völlig entfallen. Das Große Wiesbachhorn wird mal eben zum Großglockner („halt irgendwas mit Groß“).

Beim Abstieg lasse ich mich weit zurückfallen und hänge meinen Gedanken nach.
Ein richtiger Bergsteiger werde ich wohl nicht mehr.
Das war heute weit jenseits meiner Möglichkeiten und Fähigkeiten.
Ob das die guten Freunde noch einmal mit mir mitmachen?
Aber, es war ein großes Abenteuer und ein riesiger Spaß.

 

Epilog:

Am Parkplatz trinken vier Männer aus derselben Flasche Wasser und halten dabei 1,50 m Abstand zueinander. Und als Paco mir noch bei sich daheim ein alkoholfreies Bier spendiert, verlieren wir uns lange in alpinen Plaudereien, bis ich erschrocken feststelle, dass ich in vierzig Minuten Zuhause sein muss.
Zwei Personen in einem Auto mit Ingolstädter Nummer stehen am Straßenrand. Es ist zehn vor zehn.
Eilig und mit den letzten Litern Diesel (Reichweite = 30 km) betrete ich um Punkt 22:00 Uhr das Haus.
 
Ich schlafe wenig in der folgenden Nacht, weil mein Kopf wach bleibt und den ganzen Tag immer wieder von A bis Z Revue passieren lässt …

Zing, the fatty haul bag …



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Zing • 28. März 2021