HELSINKI - Teil 4/4

bleibende Eindrücke

Der letzte Tag in Helsinki. Heute Mittag wird es schon wieder in Richtung München gehen, hoffentlich. Mal schaun, wer heute wieder in Deutschland streikt.

Aber jetzt bin ich noch hier und kann meinen Gedanken über Finnland, Europa und die ganze Welt freien Lauf lassen. Wie versprochen bin ich an diesem Morgen lediglich mit einem "Shiftobjektiv" bewaffnet und werde Architekturfotografie üben. Architektur ist nämlich in der sehr jungen Stadt Helsinki ein spannendes Thema. Von den Schweden im Jahr 1550 unter dem Namen Helsinge fors gegründet, taucht der finnische Name Helsinki erstmals 1819 auf, als das neugegründete Großfürstentum Finnland eine näher an St. Petersburg gelegene Haupstadt. Aus der Zeit der russischen Herrschaft stammen zahlreiche Gebäude. Helsinki ist übrigens seit 1917 Hauptstadt eines unabhängigen Finnland. Und irgendwie war Finnland ja auch lange Zeit eine Brücke zwischen Ost und West. Auch die Architektur spiegelt das wieder...

Das insgesamt positive Bild von Helsinki bekommt einige Schönheitsfehler. Als braver, deutscher Turist möchte ich natürlich unbedingt meine beiden Plastikpfandflaschen in den finnischen Wertstoffkreislauf zurückgeben. Klar, würde ich mein Pfand zurückerhalten, wenn ich in dem kleinen Laden etwas anderes kaufen würde. Weil hier alles elektronisch bezahlt wird, gibt es hier aber keine Kasse. Also bekomme ich auch kein Pfand ausbezahlt. Als ich die Dame frage, was ich denn jetzt mit den beiden Flaschen tun soll, antwortet sie knapp: "Put it into the bin." Dieser Pragmatismus gefällt mir, wenngleich sich dabei so manchem Grünenpolitiker in meiner Heimat schon wieder die Nackenhaare aufstellen würden. Vielleicht sind die Finnen auch deshalb so glückliche Menschen, weil sie sich die Mühe sparen alles zu 100% perfekt machen zu wollen.


Kurz zur Architektur. Das Palace Hotel ist wirklich keine Schönheit. Ich bin mir aber sicher, dass sich hier Spione aus der ganzen Welt die Klinke in die Hand drücken...

Weiter zur nahen Markthalle, die eigentlich keine Markthalle mehr ist, sondern eher ein moderner Fresstempel mit zahlreichen Kiosken. Markt klingt ja gemeinhin nach frischer Ware. Hier wird jedoch auch die ein oder andere Konserve zum Kauf angeboten. Ein einziger Stand mit frischem Fisch ist eher ein Randerscheinung in diesem Fastfood-Tempel. Da ist auch wieder das Rentier-Kebab, dass unter fettigen Pommes und einer lieblosen Salatgarnitur verschwindet. Wo ist Master Chen, wenn man ihn mal braucht?

Mein Tipp an Helsinkis Markthalle: Probiert es doch mal mit Rentier-Döner-Kebab, mit alles, schön scharf! Ihr müsst nur einige türkische Experten aus Deutschland hinzuziehen...

Auch das glückliche Finnenvolk kann mit einem ganzen Heer an Verbots- und Gebotsschildern aufwarten. Meist findet man die dreisprachig: Finnisch, Schwedisch (zweite Amtssprache in Helsinki) und Englisch. Mit Finnisch hätte ich jedenfalls arge Schwierigkeiten. Was in dieser scheinbar wahllosen Aneinanderreihung von Vokalen und gedoppelten Konsonanten ist eigentlich Subjekt oder was Verb? Wikipedias Erklärung, dass das Finnische eine finno-ugrische Sprache sei und sich deshalb erheblich von indogermanischen Sprachen unterscheiden würde, hilft mir da auch nicht weiter. Naja, zumindest können Finnen und Esten sich verstehen.


Finnland ist schön, aber dorthin werde ich sicher nicht auswandern. In meinem Alter kauft man keine Langspielplatten oder lernt eben mal eine neue Sprache.

Die Uspenski Kathedrale erweist sich als das perfekte Architekturmotiv für den Einsatz von Shift-Objektiven. Ich probiere es zunächst das Gebäude in verschiedenen Einzelframes einzufangen. Die Möglichkeiten eines freien, unverstellten Blicks sind bei 28mm am APS-C-Sensor jedoch eingeschränkt. Entweder stört ein Objekt im Vordergrund oder aber man ist so nah dran, dass man nur noch eine Detailaufnahme zustande bringt. Hätte ich doch nur ein Objektiv mit kürzerer Brennweite...


Da aber kommt der Geistesblitz. Ich könnte ja vier in verschiedene Richtungen geshiftete Bilder zusammensetzen. Leider habe ich kein Stativ dabei, was die Sache ungemein vereinfachen würde. So muss ich eben mit der elektronischen Wasserwaage der Kamera auskommen und mir einen zentralen Punkt suchen, den alle der vier Einzelbilder gemeinsam haben.

Damit die Bilder über eine konsistente Belichtung verfügen, müssen Blende, Belichtungszeit und ISO-Empfindlichkeit manuell eingestellt werden. Wenn man mit JPEGs arbeitet, so wie ich, dann sollte auch der Weißabgleich auf eine konstante Farbtemperatur eingestellt werden. Sämtliche automatischen Weißabgleichsmodi, dazu gehören auch Sonne, Wolken usw., sollte man nicht verwenden, weil ansonsten die Einzelbilder einen abweichende Farbtöne aufweisen könnten. 5000K waren an diesem Morgen ganau richtig.


Nachdem ich das Endergebnis dieses Versuchs vor mir liegen habe, finde ich, dass das mein bestes Architekturfoto 'ever so far' geworden ist! Don't tell me what you think in the comments below, because there is no comment function available :-p

Vor dem Hauptbahnhof kauert seit Tagen ein Bettler in absurder Haltung vor einem Pappbecher. Neben der offensichtlichen Kritik, dass der Bettler dieses Geschäftsmodell im Land der Kreditkartenzahlung vielleicht überdenken sollte, frage ich mich auch, ob der nachts überhaupt heimgegangen ist. Lebt der überhaupt noch? Oder ist das eine Skulptur, so eine Art Kunstwerk aus Pappmache? Bei der Annäherung nehme ich einen strengen Geruch war. Verwesung riecht anders, also lebt er noch.

Schlussfolgerung: Im glücklichsten Land der glücklichen Finnen erlebt nicht jeder Wohlstand. Und dann ist da die Erkenntnis, das Glücklichsein und Wohlstand nicht das Geringste miteinander zu tun haben...


Ich wende mich der Steampunk-Architektur des Hauptbahnhofes zu. Das Gebäude könnte auch gut und gerne von Albert Speer entworfen worden sein. Wieder muss ich an 'Iron Sky' denken. Naziarchitektur.


Mit einer nachträglichen Abdunklung der Lichter und dem Hinzufügen von viel Korn entsteht die Bilderreihe "Steampunk Station".

Mein Flug wurde nicht gestrichen. Münchner Bordpersonal streikt erst morgen. Daheim läuft aber heute Weselskys erster Wellenstreik einer unüberschaubaren Streikwelle. Die S-Bahn hier in Finnland läuft dagegen wie ein Uhrwerk. Alle 10 Minuten fährt ein Zug in Richtung Flughafen. Da macht es auch nichts, dass ich versehentlich zwei Stationen zu früh aussteige. Der nächste Zug kommt ja gleich. Nur daheim werde ich mir heute noch den Spruch von der "senilen Nahverkehrszugflucht" anhören müssen...


Der Flughafen wäre auch noch eine eigene Fotostrecke wert. So aber reicht es gerade für ein paar Frames der imposanten Rolltreppe vom Bahnhof zum Flughafengebäude. Die Zeit drängt, mein Flug ist pünktlich.



Der S-Bahnnotbetrieb in München funktioniert besser als der Normalbetrieb. Und so sitze ich bald beim besten Kaffee, dem Kaffee daheim, und plane bereits eine weitere Tour nach Helsinki, oder Finnland, aber im Sommer...


Zing • 12. März 2024