HELSINKI - Teil 2/4
Ankommen und eintauchen!
Es ist kalt. Es ist sogar sehr kalt. Unter einem Zentimeter bzw. -10°C. Man möchte meinen, dass noch niemand auf den Beinen ist, und schon gar nicht bei dieser klirrenden Kälte. Aber weit gefehlt! Die Männer von der Straßenreinigung sind schon bei der Arbeit und räumen die Stadt auf.
Mir fällt auf, dass die Männer allesamt Finnen sind. Das Klischee vom schlecht bezahlten Migranten, der dem reichen Finnen die Hauptstadt putzt, wird keineswegs erfüllt. Und ich bemerke noch etwas. Die haben viel Spaß an und bei ihrer Arbeit. In einer Seitenstraße fahren die sogar ein kleines Rennen mit den Kehrmaschinen...
Einem winke ich sogar zu und frage ihn auf Englisch, warum er so viel fun bei der Arbeit habe. Eine Antwort darauf erwarte ich gar nicht einmal. Aber er sagt: "Because my homecity!"
Now I'm impressed.
Ich beende meinen Morgenspaziergang. Das Rätsel des Turms vom Vorabend kann ich jedoch noch auflösen. Es handelt sich um ein pompöses Hotel. Hotel ist mein Stichwort.
Auf zum Hotel Scandic Helsinki Hub und einem der vermutlich besten Frühstücksbuffets der ganzen Stadt.
Ich bin anders. Während normale Touristen mit einer Stadtrundfahrt beginnen würden, schnappe ich mir lieber den Fotoapparat und ziehe los, entweder zu Fuß oder mit den Öffis. Heute beginne ich mit der Tram, steige aber schon nach drei Stationen wieder aus und schlängele mich in Richtung Hafen durch die frühe Innenstadt. Es kommt wie, es kommen muss. Ich stehe unter dem leuchtenden Dom, einem Hotspot für alle Besucher von Helsinki.
Der Dom gibt für Fotografen einiges her. Jetzt, wo nur wenige Menschen unterwegs sind, kann man nach Belieben Bildkompositionen ausprobieren.
Auf die einzelne Person, die als Größenvergleich herhalten muss, muss man jedoch schon etwas warten.
Im Rucksack habe ich noch ein shift-adaptiertes Objektiv von MINOLTA (28mm). Damit entsteht das Bild rechts. Noch nicht so ganz gut, aber immerhin ein möglicher Beitrag zum geplanten Artikel über den Einsatz von Shift-Objektiven...
Um 09:00 Uhr werden die Pforten des Doms geöffnet. Das ist mein Signal, um den Weg zum Hafen fortzusetzen.
Ich gelange zum Hafen. Die Fähre nach Suomenlinna hat gerade abgelegt und stampft lautstark durch die schweren Eisschollen, die er Wasseroberfläche ein arktisches Antlitz verleihen. Ich merke mir, dass die Fähre alle 40 Minuten ablegt.
Ich stolpere noch über die Sprachbarriere einer asiatischen Touristin. Die ist 10 Minuten zu spät. Die Fähre ist nur noch ein Punkt am Horizont. Die Anzeige, dass die nächste Fähre um 09:40 Uhr ablegt, versteht sie nicht. Auch als ich auf die Fähre am Horizont deute und ihr erkläre, dass diese vor 10 Minuten abgelegt habe, kann sie nur sagen: "Today no ferry?" Kurz verspüre ich den Drang mit 'yes' zu antworten, überlasse Sie dann aber wortlos der Kälte. Dort drüben leuchtet nämlich schon die Uspenski Kathedrale im besten Sonnenlicht.
Uspenski Kathedrale steht am Eingang zur Halbinsel bzw. dem Stadtteil Katajanokka. Dort hat z.B. die Finnische Eisbrecherflotte ihre Liegeplätze. Leider sind die Eisbrecher zu dieser Jahreszeit alle beim Spielen in der Ostsee...
Hunde, das fällt mir positiv auf, sind immer angeleint. Die Haufen werden von den Hunde-besitzern vorbildlich in Plastiktüten verpackt und entsorgt. Aber irgendwie haben die finnischen Hundebesitzer*innen auch einfach mehr Niveau als die mir bekannte, deutsche Vergleichsgruppe...
Plötzlich kommt ein Mann in Badehose aus einem Gebäude, das ich für einen Kiosk gehalten hatte, heraus, überquert die Straße und verschwindet in einem Loch im vereiseten Hafenbecken. Da geb ich mich in meiner dicken Dauenjacke und langer Merinounterwäsche dann doch geschlagen. Beeindruckend.
Auf der Insel Tervasaari rutscht ein Frau auf dem spiegelglatten Spazierweg aus. Sofort eilen Passanten herbei, um ihr aufzuhelfen. Man lacht, man tauscht ein paar Worte aus und geht dann wieder auseinander. Ich möchte mir gar nicht ausdenken, wie diese Szene in meinem Heimatland ausgegangen wäre: Notarzt, Polizei, Räum- und Streupflichtklage, aktuelle Stunde im Bundestag...
Eine junge Frau richtet sich in der Kälte ein und absolviert ein strammes Yoga-Programm. Da könnte sich so manche, deutsche Nordic-Walking-Matrone noch eine Scheibe von abschneiden...
Benzin, und auch Diesel, sind viel teurer als bei uns in Deutschland. Trotzdem beklagt sich hier kaum einer. Bei 1,85 € würde bei uns niemand mehr lachen.
Plötzlich begreife ich, warum die Finnen so glückliche Menschen sind.
In meinem Heimatland ist jetzt niemand glücklich und man macht die äußeren Umstände, alles andere, die Ausländer, die Weltwirtschaft und was weiß ich nicht alles dafür verantwortlich. Glück ist für viele etwas, das in der Zukunft liegt und bisher noch nicht erreicht wurde. Die ständige Suche und das Streben nach Glück macht unglücklich und unzufrieden.
Finnen arrangieren sich mit den Gegebenheiten, passen sich an und machen das beste aus der Situation. Das Hafenbecken ist zugefroren? Dann mach Dir ein Loch ins Eis, um Schwimmen zu gehen. Der Gehweg ist vereist? Dann pass halt auf, dass Du nicht stürzt! Und wenn einer stürzt, dann hilf ihm! Es ist zu kalt für Sport? Du hast Dich nur falsch angezogen!
Glück ist etwas, das man dann gefunden hat, wenn man aufgehört hat danach zu suchen.
Mit der Tram schlage ich mich zum Olympia-Terminal durch. Ich will nach Kaivopuisto, dorthin, wo sich die Helsinkier zum Sonntagsspaziergang treffen. Es gibt viel zu beobachten.
Da ist die vierköpfige Familie mit offensichtlichem Migrationshintergrund. Die sprechen alle Finnisch! Ach, und dahinten sind ja noch andere. Die Kinder spielen mit anderen. Die Eltern wechseln ein paar Worte Finnisch und lachen.
Ein älter Mann stürzt auf einem vereisten Steg. Ein junger Mann mit Turban hilft ihm wie selbstverständlich auf.
Hierhin würde ich auch migrieren wollen, wenn Finnisch doch nur nicht eine fast vollständig aus Vokalen bestehende Sprache wäre...
Die Temppeliaukion Kirkko, die Felsenkirche war mir ja schon zu Beginn der Reise vom Helsinki-Card-Rasta-Man nahegelegt worden. Das war mal nicht zu viel versprochen. Das Kirchenschiff entspricht eher einer fliegenden Kirchenuntertasse. Der gesamte Raum verfügt über eine eizigartige Akustik. Selbst die Flüsterer versteht man völlig klar aus der letzten Reihe.
Das Fischauge ist hier genau das richtige Objektiv.
Irgendeine Veranstaltung wird hier gerade vorbereitet. Ein junge Frau stellt vor dem Altar kniend Kerzen auf. Das ist natürlich mein 'Streetfoto' des Tages.
Von außen fällt die in den Granit eingelassene Kirche dann jedoch kaum auf. Das Wort Bunker schießt mir durch den Kopf. Dann habe ich es aber. Das hier muss einer der Drehorte des Films 'Iron Sky' sein. Tja die Finnen, Nazis in einer Kirche auf der Rückseite des Mondes...
Von der Bibliothek Oodi hatte ich schon gehört. Ich war gespannt. Ein Sonntagnachmittag wäre sicher die beste Zeit für einen Besuch, weil dann dort nicht viel los sein wird. Völlig falsch!
Die herkömmliche Vorstellung von Bibliothek muss man bei der Oodi über Bord werfen. Hier gibt es auch Bücher und es wird gelesen. Tatsächlich ist die Oodi ein Ort zur Begegnung von Jung und Alt. Hier wird Schach gespielt, diskutiert, gemeinsam gearbeit und gebastelt. Ein Mädchen holt aus einem riesigen Farbdrucker ein Plakat. "It's for a project in school!" "In highschool?" "Middelschool, 8th class." - I'm again impressed. An den Nähmaschinen gehe ich lieber vorsichtig vorbei. Ha, und da ist ja auch ein Regal mit deutschsprachigen Büchern!
Wer die Oodi erlebt hat, versteht warum die Finnen bei der Pisa-Studie immer so gut abschneiden. Anstatt Angst davor zu haben Kinder zu überfordern, geben die Finnen den Kindern die Möglichkeit sich neuen Herausforderungen zu stellen.
Wissen ist etwas, das man erlangt hat, wenn man aufhört darüber nachzudenken, wie man Wissen erlangen könnte.