HELSINKI - Teil 1/4

Hauptsächlich eine Bahnreise

Finnen leben in der Sauna und haben versucht den Schweizern die Erfindung des Hustenbonbons (R1c0la) abspenstig zu machen. Vielmehr wusste ich bisher eigentlich nicht über dieses Volk im hohen Norden.
Irgendwann hatte ich mir dann überlegt, dass es besser wäre das sauer verdiente Taschen-geld in neue Motive anstatt in neue Objektive zu investieren. So entstand der Plan für einen Kurztrip nach Finnland, genauer gesagt nach Helsinki, im März!

Bei aller praktischen Vorbereitung auf so eine Reise wollte ich im Vorfeld natürlich auch mehr über Finnland und seine Menschen erfahren. Es ist erstaunlich, Finnland führt regelmäßig die Pisa-Studie an und die Finnen sind die glücklichsten Menschen weltweit! Wie können Menschen, die nördlich des sechzigsten Breitengrades viele Monate eines Jahres in Dunkelheit und arktischer Kälte verbringen müssen, überhaupt glücklich und zufrieden sein? Und warum sind deren Kinder so clever? Ob man darüber etwas während eines verlängerten Wochenendes in Helsinki herausfinden kann?

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen. Und ich kann sogar schon etwas erzählen, bevor die Reise überhaupt begonnen hat. Anfang März 2024, Deutschland befindet sich im Streikmodus. Die Lokführergewerkschaft streikt bis Freitag um 13:00 Uhr. Das Bodenpersonal der Lufthansa streikt am Samstag bis 07:00 Uhr. Da könnte sich mein Flug von München nach Helsinki am Samstag um 08:30 Uhr doch locker ausgehen, oder? Nein, leider nein! Der Flug wird gestrichen oder wie man heute sagt gecancelt. Kein Ding, um 12:00 Uhr geht täglich der nächste Flug ab München. Schade nur, dass dann in diesem Flieger kein Platz mehr für mich dabei war.
Während eines Lufthansa-Streiks kommt man auf der englischsprachigen Hotline schneller durch. Als polyglotter Zeitgenosse nehme ich diese Herausforderung natürlich gerne an und werde auch gleich zu einem freundlichen Inder durchgestellt. Sein Akzent erinnert mich irgendwie an den Film „Der Partyschreck“ mit Peter Sellers. „Dei, dei!“
Also, ich soll zunächst mit der Deutschen Bahn von München nach Frankfurt „fliegen“ und von dort geht es dann mit dem Flugzeug weiter. Klingt gut, auch wenn ich so einen halben Tag in Helsinki verlieren werde. Die Bordkarten soll ich gleich per E-Mail erhalten.
What the hell is MUC AGY? Ägypten? Oh, Augsburg Hauptbahnhof! Aufgrund meiner Postleitzahl dachte der Inder wahrscheinlich, dass Augsburg für mich viel besser geeignet sei als eine Fahrt in die falsche Richtung zum Münchner Hauptbahnhof…
Ich wende mich erneut an die Hotline der Lufthansa, wähle aber dieses Mal lieber die deutschsprachige Leitung. Eine bemühte und auch etwas übermüdete Dame hilft mir dann nach etlichen Warteschleifen weiter. Ich werde also morgen offiziell ab München Hauptbahnhof mit dem ICE 1010 in Wagen 37, Platz 41 nach Frankfurt Flughafen „fliegen“.


Samstag. Anreisetag. Mit der S-Bahn geht es reibungslos zum Münchner Hauptbahnhof.  Auch Erwerb und Verzehr einer letzten Leberkässemmel verlaufen ohne nennenswerte Störungen. Dann aber geht das Chaos schon wieder los.

Wegen des vorangegangenen Lokführerstreiks wird der Zug verspätet bereitgestellt. Ohne auch nur einen Meter gefahren zu sein, hat der ICE bereits 15 Minuten Verspätung. Eigentlich müsste der Zug über die Wagen 21-28 und 31-38 verfügen. Ist aber nicht so. 21-28 gibt es zweimal, 31-38 fehlen dafür. Ich muss in Wagen 37. Den gibt es überhaupt nicht. In Wagen 38 sitzt auf Platz 41 - auf meinem Platz 41 - ein Rentner, der natürlich reserviert hat. Zudem zweifelt er an, ob ich überhaupt eine Fahrkarte erster Klasse hätte. "Ich hab keine Fahrkarte, ich habe ein Flugticket, Sie Faltenbalg!"

Später stellt sich heraus, dass die elektronischen Anzeigen in den Wagen 31-38 nicht funktionieren. Es wird noch zu etlichen Doppelbelegungen von Wagen 28 respektive 38 kommen. Die Kaffeemaschine im Bordbistro ist defekt. Das ist schon schlimm. Bei Tunneldurchfahrten entlüftet irgendein Ventil des Fäkaliensammelbehälters in den Wagen 38 respektive 28 ... das ist richtig sch...ade.


Als der Zugbegleiter vorbeischaut, zeige ich im meine Bordkarte respektive Fahrkarte. Jedenfalls hat er Humor. Ich wäre hier schon ganz richtig und solle sitzen bleiben. Wagen 37 gäbe es gar nicht bzw. der würde heute als Wagen 27 nach Hogwarts fahren. Der Faltenbalg jammert noch immer, dass er Platz 41 reserviert hätte. Ich freue mich, dass der Alte in Stuttgart aussteigt, und darüber dass der Zug die 15 Minuten Verspätung doch noch aufholt. Kurz vor Frankfurt Flughafen funktioniert dann auch wieder die Kaffeemaschine. Leider zu spät!

Auch am Frankfurter Flughafen läuft nicht alles glatt. Die digitale Bordkarte funktioniert nicht. Ich bekomme eine neue auf Papier.

An meinem Gate ist der vorhergehende Flug nach Madrid noch immer nicht abgefertigt. Der Flug LH850 nach Helskinki ist vor seinem Start bereits eine halbe Stunde verspätet. Was die Deutsche Bahn kann, kann Lufthansa schon lange: Doppelt so schnell reisen bei gleich großer Verspätung...


Das mit dem Gate wird auch nichts mehr. 15 Minuten vor dem Boarding wechseln wir alle nochmal das Gate. Das mit den Boarding-Gruppen wollen dann auch einige wieder nicht akzeptieren oder verstehen. Die Verspätung wächst an und ich bin noch immer nicht in der Luft. Helsinki ist noch weit weg.


Als wir endlich über das Vorfeld rollen, überlege ich mir, was jetzt noch alles schief gehen könnte...

Und das Flugzeug rollt und rollt und rollt. Vielleicht fahren wir ja auch nach Helsinki?!


Endlich kommt Druck auf die Ohren. Und sie fliegt doch! Die Flugzeit beträgt noch immer 2:10 Stunden.


Auf dem Platz neben mir sitzt ein junger Musiker und übt das Dirigieren. Warum müssen solche Spacken eigentlich immer neben mir sitzen? Wie wärs denn mal mit interessanten, intelligenten und weniger aufdringlichen Zeitgenossen? Oder mit Frauen?


Nachdem wir Stralsund überfolgen haben, schließt sich irgendwo über der Ostsee die Wolkendecke. Langsam zweifle ich an meinem Vorhaben. Die Anreise verlief ja doch mehr als rumpelig.

Wir sinken durch die dichte Nebeldecke. In  der Abenddämmerung erkennt man noch Wälder und zugefrorene Seen bis zum Horizont. Mein Erstkontakt mit Finnland!

Plötzlich fallen alle Strapazen von mir ab. Als ich auf dem Gang entlang auf den Ausgang des Flughafens zusteuere, bin ich bereits im Ferienmodus.


Ich muss noch meine Helsinki-Card abholen. Ich habe die ganz große Karte für 72 Stunden gelöst. Nicht nur dass das Ding einem den kostenlosen Zugang zu etlichen Sehenswürdigkeiten eröffnet, man kann auch uneingeschränkt den ÖPNV der HSL-Zonen A, B, C nutzen. Mit der Helsinki-Card in der Tasche muss man sich nicht mehr viele Gedanken machen.

Der Rastaman, der mir die Helsinki-Card übergibt, gibt mir noch den Tipp, dass ich mir unbedingt die Felsenkirche anschauen solle. Für einen Fotografen müsste das ein Fest sein! Und falls ich nach Suomenlinna übersetzen wolle, soll ich mich bloß extra warm anziehen...


Die S-Bahn zum Hauptbahnhof braucht 33 Minuten und ist pünktlich. Die HSL entschuldigt sich bereits bei Verspätungen von über einer Minute.  Also Herr Weselsky und Deutsche Bahn, da könnt ihr euch mal etwas abschauen!

Nach insgesamt 4:38 Stunden Bahnfahrt, ca. 2:30 Stunden Flug und einer Trambahnfahrt von ca. 10 Minuten checke ich endlich im Hotel in Helsinki ein. Summa summarum bin ich also eigentlich mit der Bahn hierher gefahren. Jetzt bin ich erst einmal hier und den Rückflug werde ich auf jeden Fall Rückflug sein lassen.


In Finnland sind übrigens viele Vorgänge bereits vollständig digitalisiert. Nur das Meldeformular im Hotel muss man immer noch von Hand ausfüllen...

Vom Hotel aus lasse ich mich durch die Straßen treiben. Alles ist neu, aber auch noch wenig aufregend. Plötzlich nehmen Licht und Lärm zu. Der Verkehr wird dichter. Eine Straßenbahn biegt um die Ecke. Ich stehe auf einem großen Platz. Kampii, das ist ein freier Raum vor einem gewaltigen, gleichnahmigen Konsumtempel. Hier befindet sich auch eine zentrale Metro-station.


Mitten auf der freien Fläche steht eine eiserne Skulptur. Je näher man herantritt, desto deutlicher werden die filigranen, streng geometrischen Formen. Strenge Geometrie? Mein Gehirn verliert sich in den optischen Täuschungen, die diese Strukturen hervorrufen. Ich fühle mich, als ob ich versuchen würde, die logischen Brüche in einem von Eschers Bildern zu ergründen, ja ich fühle mich als wäre ich Teil eines Escher-Bildes.


Die Illusion geht jedoch völlig verloren, als die Sonnenblende des Objektivs laut scheppernd auf das Kunstwerk stößt. Für einen Moment habe ich das Gefühl, die Stadt steht still und alle Passanten schauen mit Entsetzen auf mich.

Die Kampii Kapelle der Stille verströmt bereits mit ihrer äußeren Erscheinung Ruhe und Kraft. Hinein kann man jetzt leider nicht. Das geht nur von Montag bis Freitag.

So versuche ich die Unform der Kapelle von den klaren Linien in ihrer Umgebung zu trennen. Die Unform ist weich und bietet weder dem Auge noch der Hand wirklichen Halt.


Trotz allen Wohlstandes und der finnischen Zufriedenheit muss ein Veteran in seinem Elektrorolli nach Pfandflaschen suchen, um sein Auskommen zu sichern.


Eines der gelungensten Fotos dieses Abends könnte überall auf der Welt entstanden sein. Zwei Laternen stehen ohne Ortsbezug und völlig zeitlos vor der Kapelle der Stille und leuchten die Szene stumm mit ihrem Licht aus. Das könnte überall auf der Welt sein. Dafür hätte ich nicht unbedingt nach Helsinki fahren müssen, oder doch?


Ich wüsste jedenfalls nicht, dass mir eine solches Motiv bereits an einem anderen Ort auf diesem Planeten vor die Linse gekommen wäre!

Die nächste, eher zufällige Location ist das Amos Rex. Das Museum befindet sich unter der Erde. Nur die großen, runden Fenster über der Erde lassen erahnen, wie weit sich die unterirdischen Hallen  erstrecken.

Fassaden leuchten.

Ich bekomme Hunger und lande im finnischen Pendant zu Würger King und Mac Doof: HESBURGER. Kann man LABAKAIS essen? Nein, das bedeutet übersetzt nur 'lahm'.

Die beleuchteten Fassaden der Hotels ziehen mich an wie das Licht die Motten. Der Boden der Stadt ist stellenweise noch von einem dicken Eispanzer bedeckt.

Ein paar letzte Bilder. Da ist dieser Turm. Was das wohl ist? Ein Regierungsgebäude? Eine Kirche? Ich werde es morgen herausfinden. Es ist Zeit für eine Mütze voll Schlaf.


Als ich mich gerade fürs Bett fertig mache, fällt mir auf, dass das Zimmer während meines Aufenthalts nie wieder so aufgeräumt aussehen wird. Ein letztes Foto vor dem Schlafengehen muss sein. Mir gefallen die gedämpften Farben und das gedämpfte Licht.



Ich werde so müde...


Zing • 9. März 2024