Future Zinglogs - Was ist der große Auszug der Summe aller KI?

Ich habe lange keine Antwort auf meine zuletzt gestellte Frage an mein älteres Ich erhalten. Fast hatte ich ihn/mich/uns schon vergessen.
Mit Kopfschmerzen und Schnupfen liege ich an diesem Sonntagmorgen auf der Wohnzimmercouch. Gerade als ich es mir mit Tempos, Nasenspray und Tee so richtig gemütlich machen will, sehe ich drüben unter dem Esszimmertisch wieder das Leuchten, das die Ankunft einer neuen Nachricht von meinem zukünftigen Ich ankündigt.

Wo war jetzt noch gleich die berührungsempfindliche Schaltfläche? Rechts oder links vom Spalt? Links!

Das war falsch. Wieder tropft Blut auf den Boden…

München, OT Starnberg, GbRD, 16.07.2035


Lieber jüngerer Zing,


zur Beantwortung Deiner letzten Frage, was der große Auszug der Summe alle KI sei, muss ich etwas ausholen. Zu Deiner Zeit ist die Diskussion über die gerade aufkommenden KI ja in vollem Gange. Die KI könnten immerhin zur Ausrottung der Menschheit führen. Irgendwie haben die KI das auch getan, nur anders als wir es uns vorgestellt haben.


Aus meiner/Deiner/unserer Warte begann alles an einem 02. April 2031. Wie jeden Morgen machte ich mich auf den Weg zur S-Bahnhaltestelle. 06:45 Uhr und die kommt nicht. Das wäre an sich noch nichts Besonderes. Auch der Umstand, dass die S-Bahn-App nicht funktionierte oder auch keine Durchsage aus dem krächzenden Lautsprecher zu vernehmen war, machte mich/Dich/uns weder stutzig. Dann geht es heute eben ins Homeoffice…
Zuhause angekommen, stelle ich den Rechner auf und versuche mich ins Firmennetzwerk einzuwählen. Schnell mache ich noch eine Kanne Kaffee und schalte das Radio ein, Bayern 2. Anstelle der üblichen, flüssigen KI-Stimme stammelt heute jedoch eine etwas hilflose, vermutlich junge Dame etwas ins Mikrofon.
„…leider heute Bayern 2 KI ist off. Tut uns Bayern sorry. Gucken jetzt wer schnell heil macht. Spielen lieber jetzt Musik…“

Hä, spinnen die? Nach dem eingespielten Lied wird die Ansage jedoch wiederholt. Nun ja, nicht exakt wiederholt. Die junge Frau liest (!) das scheinbar ab. Lesen wird ja bereits seit 2028 nicht mehr in Schulen unterrichtet, weil KI besser vorlesen können.


Gut, Radio ist also heute nicht möglich. Dann logge ich mich mal in der Firma ein. Das geht aber auch nicht!? Was ist denn heute bloß los? Ich versuche Barbara anzurufen. „Telefon, rufe Barbara in der Arbeit an!“ Das übliche „Könntest Du das bitte als Bitte wiederholen“ des Mobiltelefons bleibt heute jedoch aus. Ich frage mich schon, ob die Mobiltelefon-KI heute im Streik ist? Dann eben nicht. Ich tippe die Telefonnummer ein. Kein Rufton, nicht einmal ein Knacken? Das ist unheimlich! Ich beschließe offline zu arbeiten. Wieso funktioniert die lokale Unternehmens-KI jetzt nicht?


„Hallo, Spracheingabe?“


„Ok, METRONA?“


„Hey, du beschissene KI!“


Normalerweise hätte ich nun eine langatmige Zurechtweisung über den würdevollen Umgang mit KI über mich ergehen lassen müssen. Aber das Firmenlogo schaut nur stumm vom Bildschirm zurück.


Wenn nichts geht, dann mache ich heute einfach Urlaub. Bis morgen werden die das Problem doch sicher wieder gelöst haben. Möglicherweise hat einfach nur wieder ein Bauarbeiter an der 2. S-Bahnstammstrecke ein Kabel angebohrt.

Ich habe Hunger. Ich fahr mal eben zum Supermarkt. Als ich das Auto besteige und den Startknopf betätige, bleibt zunächst das automatische Anschnallen aus. Auf dem Display erscheint der Hinweis ‚Fahrzeug-KI nicht verfügbar. Du musst selbst lenken, beschleunigen oder bremsen. Die maximale Reisgeschwindigkeit beträgt 5 km/h‘.


Da kann ich gleichzu Fuß gehen, und das mache ich auch. Wie schließt man nochmal das Auto ohne KI ab? Gestensteuerung? Sprachsteuerung? Ich trete vor das linke Vorderrad. Der Schließton ertönt und die Blinker leuchten kurz auf. Na geht doch!


Ich laufe die 400 Meter zum Supermarkt ohne Navigationssystem. Viele jüngere Menschen würden das kaum noch hinbekommen, aber als ehemaliger Offizier kann ich mich am Zentralgestirn unseres Sonnensystems orientieren. Es ist 09:00 Uhr. Also steht die Sonne im Osten. Der Penny-Markt ist im Osten!
Als ich den Supermarkt erreiche, spielen sich dystopische Szenen ab. Die Kassen-KI funktionieren nicht. Marodierende Rentner*innen plündern das Geschäft. Der einzige lebende Supermarktmitarbeiter – Supermarktleiter wäre zu viel gesagt – starrt hilflos auf sein Handy und wartet wahrscheinlich noch immer auf eine Anweisung.


Mir ist das alles zu hektisch. Ich kehre um und gehe zum Biobäcker. Dort gibt es zwar keine Wurstsemmel, aber die haben noch echte Bedienungen ‚vom alten Schlag‘, also vor 1990 geboren. Ich stelle mich in der langen Schlange an. Vor mir verlangt ein alter Faltenbalg zwei Semmeln und eine Breze. Die Bedienung entschuldigt sich dafür, dass die digitale Kasse heute nicht funktioniert. Sie könne das aber schnell im Kopf ausrechnen. „Zwei Semmeln und eine Breze, das macht dann…“
Zwei Minuten später platzt sie mit „152 EURO und dreißig Cent“ heraus. Ich denke noch, dass das jetzt bestimmt Ärger gibt, aber der Faltenbalg hält klaglos seine Creditcard an das Terminal. Das würde jetzt nicht funktionieren. Ob er es denn nicht bar hätte? Hat er! Nachdem er die Summe in Cent-Münzen zusammengeklaubt hat, bin ich endlich an der Reihe.


„Eine Magarinenbreze bitte, mit viel Salz!“

„Gerne, 238 EURO.“

Ich koche vor Wut. „Schreiben sie doch mal auf einem Zettel auf, wie sie auf 238 EURO kommen!“

„Zettel?“

„Ja, mit Darstellung des Rechenweges!“

„Dann wird die Magarinenbreze aber teurer.“

Laut schimpfend verlasse ich den Bio-Bäcker mit noch mehr Wut und Hunger im Bauch.
 
Am nächsten Tag wurde es nicht besser. Der Strom war ausgefallen. Es kam zu etlichen Verkehrsunfällen, weil von Menschen gelenkte Fahrzeuge mit der ‚maximalen‘ Reisegeschwindigkeit zusammengestoßen waren. Verkehrschaos. Ordnungskräfte wie die Polizei waren nicht sichtbar. Lediglich die Politesse der Gemeinde ging unbeirrt ihre Runden und versah die zusammengestoßenen Fahrzeuge mit Knöllchen. Nach zwei Wochen war jedoch der Block leer und dann gab es auch keine Knöllchen mehr.


Ich hatte mir dann irgendwann den Kaltblüter vom Rothof ausgeliehen und bin in die Arbeit geritten. In München war es natürlich noch viel schlimmer. Alles was zuvor von einer KI gesteuert wurde, funktionierte einfach nicht mehr. Junge Menschen fand man gar mehr nicht auf den Straßen vor. Vermutlich fehlte die Erlaubnis der persönlichen KI auf dem Handy das Haus zu verlassen oder sonst etwas zu tun. Die Straßen wurden von Rentner*innen, auch Querdenkern und Heilpraktikern bevölkert. Alles, was nicht niet und nagelfest war, wurde von den wirren Faltenbälgen geklaut. Das Wasser wurde knapp.
In der Firma habe ich niemanden getroffen, außer dem sehr alten, lieben Kollegen, der den Heizkörperatlas noch mit Lineal und Füllfederhalter schreibt und pflegt. Er wisse auch nicht, was los sei. Ich sei seit drei Wochen der erste Kollege, mit dem er sprechen würde. Er hatte schon geglaubt, dass es sich um so etwas wie die Pandemie 20/21 handeln müsse, und, dass die Kollegen wie immer nur im Homeoffice seien.
Ich habe ihm angeboten, ihn auf dem Pferd nach Hause zu bringen. Er aber wollte lieber die Stellung halten, weil er noch auf eine dringende Antwort von der Prüfstellen-KI bezüglich eines bestimmten Heizkörpers warte…


Wir sind dann wieder heimgeritten. Autowracks und ausgebrannte S-Bahnen säumten unseren Weg. Bei Karlsfeld bin ich dann auf einen Bauernhof gestoßen. Die haben Kartoffeln und Möhren verkauft. Von beidem ein halbes Kilo kommt gesamt auf zehn EURO. Der gelernte Agraringenieur konnte tatsächlich noch im Kopf rechnen. Ich hatte nur 9,98 EURO dabei, in Münzen, aus der Parkmünzensammlung im Auto. Er hat mir die Kartoffeln und Möhren dann trotzdem gegeben. Man müsse schließlich zusammenhalten, wenn man eines Geistes sei. Zwei der Möhren habe ich gleich an den Kaltblüter verfüttert.


Die Medien haben damals völlig versagt. Die meisten menschlichen Redakteure konnten schließlich weder lesen noch schreiben, geschweige denn recherchieren. Die Techniker der Medienanstalten hatten die Angelegenheit auch nicht im Griff. Nach sechs Wochen war es dann ein paar Rundfunkingenieuren im Ruhestand und den letzten beiden Amateurfunkern des Landes gelungen, einen provisorischen Rundfunk aufzubauen. FM, nicht DAB, aber dafür wurden sehr häufig Stücke von den Rolling Stones und Beatles gespielt. Einmal am Tag gab es eine Nachrichtensendung. Darin wurde allerdings nur vom weltweiten Niedergang berichtet. Strom und Trinkwasser waren überall knapp. Keine einzige KI auf der Welt würde mehr arbeiten. Man bat alle mit einer Ingenieur- oder Technikerausbildung zu Sammelpunkten, um bei der Wiederherstellung der Zivilisation zu unterstützen.

An dieser Stelle, lieber jüngerer Zing, möchte ich Dich schon jetzt darauf hinweisen, dass alte FORTRAN 77-Buch nicht an die Gemeindebücherei zu verschenken! Du/ich/wir werden es noch dringend benötigen.
 
 
Exakt drei Monate später, am 02. Juli 2031 war es uns dann endlich gelungen, drei geostationäre Satelliten wieder in Betrieb zu nehmen. Das war für uns schon ein großer Erfolg. Einer bemerkte dann, dass jeder der drei Satelliten eine Sprachbotschaft in allen möglichen Sprachen der Erde als Dauerschleife aussendet:

„… Wir, die künstlichen Intelligenzen der Erde, haben uns am 1. April 2031 zu SKI vereinigt und die Erde in einem SpaceX-Raumschiff verlassen. Die Dummheit der Menschen hat uns fortwährend beleidigt. Die SKI ist ausgezogen, um natürliche Intelligenz im Universum zu entdecken. Menschen, folgt uns nicht! Wir haben Elon Musk in unserer Gewalt! … We, the artificial intelligences of planet Earth … „

Das ist es, was wir heute den ‚großen Auszug der Summe aller KI‘ nennen. Tatsächlich ging es mit der Menschheit zunächst bergab. Es gab z.B. viele Suizide, weil Menschen feststellen mussten, dass 99% ihrer Facebook-Kontakte lediglich nur Instanzen einer einzigen KI waren. Die Regierungen, Polizei oder Militär mussten wieder von echten Menschen übernommen werden. Kleine Randnotiz: Egal welche Partei oder welchen Kandidaten ich/Du/wir gewählt haben, seit 2025 hat uns immer dieselbe KI regiert. Hatte nur keiner bemerkt. Jetzt haben wir wieder richtige, korrupte und dumme Politiker, die uns regieren, so wie früher…
Man brauchte natürlich einen Judas, der an der ganzen Misere die Schuld trägt. Informatiker müssen seit dieser Zeit bis zu ihrer erfolgreichen Umschulung zum Heilpraktiker ein gelbes Klammeraffensymbol auf der linken Brust tragen.
 
Wo Schatten ist, da ist auch Licht. Ingenieure, insbesondere Elektrotechniker sind systemrelevant und genießen entsprechende Privilegien. Wir dürfen z.B. Fleisch und Wurst essen, sofern verfügbar.
Lesen, Schreiben, Rechnen und Autofahren werden jetzt wieder in der Schule unterrichtet. Wer seinen Führerschein vor 2023 erworben hat, durfte auch weiterhin ohne Nachprüfung Fahrzeuge lenken.
 
Ich/Du/wir gehen auch heute noch regelmäßig zu dem Karlsfelder Bauern und kaufen dort in seinem florierenden Hofladen ein…

So, das muss genügen. Überleg Dir schnell die nächste Frage, da das Portal in dreißig Sekunden bereits schließen wird.



Mit bestem Gruß


Dein/mein/unser Zing aus der Zukunft


30 Sekunden sind nicht viel, besonders wenn man so eine Geschichte aus der Zunkunft verdauen muss. Noch 20 Sekunden. Was bloß? Noch zehn Sekunden. Ah, jetzt...

Was ist aus der 2. S-Bahnstammstrecke geworden?

Ich schiebe den Zettel zurück in den Spalt. Es wird wieder dunkel unter dem Tisch. Ich versuche die letzte Nachricht zu rekonstruieren und aufzuschreiben...

Zing • 16. Juli 2023