Bergtour Ellmauer Halt

ohne Halt und Umweg

"Was machst Du eigentlich heuer im Sommer?" "An dem einen Tag gehe ich wahrscheinlich ins Kaisergebirge!"
Ausgedehnte Schönwetterperioden waren in diesem Sommer bisher eher Mangelware. Umso besser, dass der Föhn an diesem Samstag die Wolken für mich weiterschiebt. Immerhin steht die Ellmauer Halt auf meiner ToDo-Liste.

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:

weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Wilder Kaiser


Ellmauer Halt 2.344 m

Gruttenhütte

Wochenbrunner Alm


Wandern: T4       Klettern UIAA: I        Klettersteig: B         Schneeschuhe: -/-

1.270m / 1.270m

11,9km


07h15m

Leider wache ich mit Gedanken an die Arbeit eine dreiviertel Stunde vor dem sehr früh gestellten Wecker (03:15) auf. Ganz gleich wie sehr ich mich drehe und wende, das erneute Einschlafen will einfach nicht mehr gelingen. So in Gedanken schlummernd kommt mir bereits das erste Mal die Idee in den Sinn, die heutige Bergtour gleich im Bett abzubrechen...

Etwas später, kurz hinter der Ausfahrt Weyarn auf der A8, dann 8 km Stau wegen eines Unfalls am Irschenberg. Sind auf der A8 die Staus immer 8 km lang? Und wie gut, dass ich schon von der A99 runter bin! Ein rumänischer Kleinlaster arbeit sich aggressiv hüpfend durch den Stau nach vorne. Ich denke über Fluch und Segen der EU-Osterweiterung nach und ob ich vielleicht die heutige Bergtour bereits am Inntaldreieck abbrechen soll...

Heute ist das Mautmännchen von der Almstraße zur Wochenbrunner Alm früher dran als beim letzten Mal. 05:45 Uhr und ich bin bereits um 5,-€ ärmer. Kontakloses Bezahlen funktioniert hier nicht. Ich nehme das etwas fettige Wechselgeld mit nicht geringem Ekel entgegen. Zu einem 'Der Rest ist für Sie' bin ich dann doch nicht bereit, schließlich gilt immer noch pecunia non olet! Hoffentlich war das mal kein Corona-Groschen...

Der Weg zur Gruttenhütte führt zunächst durch einen tiefen und finsteren Wald - könnte aber auch am morgendlichen Schatten liegen - und über einen Weg mit allerlei losen Steinen. Ich stolpere und will heute gar nicht so recht in Schwung kommen. Ich überlege mir schon, die heutige Bergtour zur allergrößten Not einfach bei einem üppigen Frühstück auf der Hütte abzubrechen...

Endlich hole ich einmal zu Bergsteigern auf, die ich überholen kann, während mich gleichzeitg zwei schwer beladene Kopftörlgrataspiranten auf der ganz linken Spur überholen. Der Überholte erklärt seiner Begleiterin lautstark, dass wir ja gar nicht so viel schneller oben sein werden. Höchsten so ein bis zwei Minuten. Wer weiß denn schon, ob wir ein gemeinsames 'oben' haben? Ich beschleunige erneut, damit ich mir das Gequassel nicht länger anhören muss. Vielleicht wird er ja auch gerade deswegen so oft überholt? Auf jeden Fall ist der Abbruch der heutigen Bergtour jetzt und an dieser Stelle zunächst keine Option...

Nach einer Stunde ist die Gruttenhütte erreicht. Auf der Frühstücksterrasse geht es schon ordentlich zu. "Ich habe den Kaffee jetzt schon auf" und gehe lieber gleich weiter. Hinter mir biegt direkt ein Pärchen mit ostgotischem Sprachschatz ein. Nennen wir sie in der Folge der Einfachheit halber Lolek&Bolek. Das beständige und keineswegs lautlose Gebrabbel verfolgt mich. Immer wenn ich auf ein Foto stehenbleibe, bleiben die auch stehen. Immer wenn ich weitergehe, dann gehen auch sie weiter und beginnen sofort mit der kakophonischen Aneinanderreihung ihrer fremden Zischlaute. Am Anseilplatz kommt dann meine Chance. Sie überholen mich um drei Meter und legen ebenfalls Helm und Gurt an. Dabei schneller als ich zu sein, ist keine Kunst. In der Umkleide bin ich ein echter Lahmarsch.

Lolek&Bolek steigen ein und ich folge in gebührendem Abstand, allerdings nicht sehr lange. Schon beim ersten Drahtseil scheut Lolek - oder war es Bolek? - und man gibt mir mit "you go first" zu verstehen, dass man mir lieber folgen möchte. Man sieht mich eben gern von hinten!
Das kann ich ja nun mal gar nicht haben, wenn mir jemand so dicht aufläuft. Ich probiere nochmal den Fototrick aus! Schon dengelt der Helm von Lolek - oder war es Bolek? - an meinen Rucksack! Ich zähle still die Sekunden ab. 182, 183, 184, dann zischen sich Lolek&Bolek kurz an und überholen endlich! Endlich sehe und höre ich sie nicht mehr. Herrlich dieses unbeschwerte Bergsteigen und gar kein Gedanke mehr an den Abbruch der heutigen Bergtour...

Dort taucht die Jägerwandtreppe auf. Einige Bügel sind schon arg nach unten gebogen. Hoffentlich halten die mein Gewicht aus. Aber die Dinger stecken stramm im Fels. Nur einer wackelt kurz, weil durchgebrochen. Zum Schluß gilt es noch eine Hühnerleiter zu überwinden. Ein Doppel-T-Träger mit quer dazu aufgeschweisten Klammern leitet in ca. ein bis zwei Meter Höhe über Geröll und lose Erde hinweg. Das Drahtseil hängt schlapp daneben. Beim Aufstieg kein Problem, im Abstieg aber durchaus eine spannende Stelle.

Im Anschluss sollte es eigentlich nach links in die Rote-Rinn-Scharte abwärts gehen, weil mein Rundtourzwang (hyperorbitale Podomanie) mich heute eigentlich auf dem Kaiserschützensteig sehen wollte. Lolek&Bolek sind jedoch auch auf diesem Weg in die Rote-Rinn-Scharte, kämpfen mit losem Geröll und nuscheln sich streitend an. Das ist zwar kein Grund dazu, die heutige Bergtour frühzeitg abzubrechen, aber ich nehme doch lieber eine Abkürzung und steige direkt zur Ellmauer Halt auf.

Einmal wird es noch schwierig. Man kann sich zwischen Kamin mit Leiter links und Riss mit Stiften rechts entscheiden. Ich entscheide mich für den Riss und verwahre die Leiter für den Abstieg. Die Klettersteigmetrik bewertet den Riss mit B/C. Nutzt man man neben dem Eisen jedoch auch die zahlreichen Tritte im Fels aus, dann ist das gar nicht so anstrengend, wie es klingt.

Auf dem Gipfel angekommen drückt mir ein Pärchen gleich eine Sony α6300 in die Hand. "Oh, ist die für mich? Wäre doch nicht nötig gewesen!" "Nein, nur ein Gipfelfoto bitte, und danach die Kamera bitte zurückgeben." "Och, schade."
Bei insgesamt sechs Leuten auf dem Gipfel bekomme ich schon Platzangst. Der Sony-Mann erklärt mir jedoch, dass es heute noch vergleichsweise ruhig zugehen würde.

Nach etwa eine halben Stunde kommt auch die Quasselstrippe vom Beginn der Tour auf dem Gipfel an. Ja, genau der, der ja höchsten ein bis zwei Minuten nach mir 'oben' eintreffen wird.

Die Divergenz des Gipfels ist eindeutig negativ. Immer mehr Menschen tummeln sich hier. Den Abstieg trete ich daher gerne an. Es ist eigentlich gar kein Abstieg. Es ist eher ein stetes Abwarten, da der Gegenverkehr deutlich zunimmt. Ich benutze nun die Leiter, die sich genauso anfühlt, wie das Wecheselgeld vom Mautmännchen am frühen Morgen: scalae non olent! (Leitern stinken nicht!)

Im Anschluß geht es kurz am Drahtseil abwärts, eigentlich. Bei 15 höre ich auf die Entgegenkommenden zu zählen. Da, eine Lücke. Ich komme genau eine Felsstufe weiter. Das Gezeter ist groß. Der Angstschweiß der anderen sticht in meiner Nase. Ein eindeutige Verkehrsregelung wäre hier nicht schlecht...
Weiter unten belehre ich Entgegenkommende, dass es unbedingt notwendig sei, rechts aufzusteigen und über die Leiter abwärts. Man hilft ja gerne!

Und so klingt die Tour dann aus. Eine Gams schläft im Schnee, Spatzen schimpfen auf dem Fels und eine dicke, fette Schlage schlängelt sich über den zahlreich begangenen Wanderweg zwischen Gruttenhütte und Wochenbrunner Alm.

Was lerne ich daraus. Schön ist's im Wilden Kaiser und an Schönwetterwochenenden im August findet man die Einsamkeit nur im Keller


Zing • 7. August 2021