Die wilde Seite des Zahmen Kaisers

und plötzlich allein

Zu manchen Bergtouren gelangt man wie die Jungfrau zum Kind. Zumindest stand der Zahme Kaiser nicht auf meiner Liste und schon gar nicht in diesem Sommer. Es gäbe da noch zwei Ziele im tiefsten Südosten der Republik, aber dahin müsste man lange fahren und entsprechend früh aufstehen. Da gibt es auch noch ein bis zwei Wunschtouren in den Allgäuern, aber dahin müsste man lange fahren und entsprechend früh aufstehen. Kürzer und schneller ist der Wilde Kaiser für mich erreichbar, aber ein südseitger Anstieg zusammen mit hunderten gewöhnlicher Bergtouristen klingt auch nicht besonders einladend. Gerade als mir die Lust auf's Bergsteigen schon vergehen will fällt mein Blick in Thorsten Ottos MÜNCHNER BERGTOUREN und auf die Überschreitung hoch über dem Winkelkar...

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:



weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Kaisergebirge - Zahmer Kaiser


Pyramidenspitze 1.997m, Vordere Kesselschneid 2.001m, Hintere Kesselschneid 1.995m,

Roßkaiser 1.978m, Kleiner Roßkaiser 1.923m

Großpointer Alm, Winkel Alm, Jöchlalm

Durchholzen


Wandern: T6-         Klettern UIAA: II          Klettersteig: -/-           Schneeschuhe: -/-

1.700m / 1.700m

 19,8km


10h25m

Im Buchdeckel sind die Touren des Buches aufsteigend nach dem Gesamtanspruch aufgelistet. Mein Finger wandert lange nach unten bis er endlich auf den Übergang von der Pyramidenspitze bis zum Roßkaiser trifft. Von dort sind es nur noch 10 Touren bis zum Jubelgrat. Puh, hoffentlich habe ich mir da mal zuviel zugemutet!

Den Auftackt bildet der lange Marsch vom Parkplatz "Am Brand" (3,-€/d), immer wieder begleitet und eingeholt, aber noch nicht überholt von einem sehr lästigen Pärchen. Zum Glück ist der Morgen noch früh und die Luft halbwegs kühl (15°C), als ich auf der asphaltierten Straße dem Kesselkar entgegengehe. Irgendwann nach einer dreiviertel Stunde erreiche ich eine, wenn nicht gar die Abzweigung. Wenn alles klappt komme ich am Nachmittag von links herunter. Ergo muss ich jetzt nach rechts weiter...

Kurz vor der Winkelalm befindet sich ein Brunnen. Gut, um die körpereigenen Wasserspeicher aufzufüllen. Schnell noch ein Foto, bevor mich die beiden Nervensägen einholen. Schnell husche ich weiter, um dann auf weitere neue Nervensägen zu treffen, die zum Glück etwas langsamer unterwegs sind.
Jetzt sehe ich nur noch die riesigen Wandfluchten des Winkelkars vor mir. Wo dort wohl der Steig auf die Pyramidenspitze entlangführt? Tatsächlich wendet und windet der Steig sich in einem weiten Bogen so nach rechts, dass er über eine breite Geröllhalde sehr weit an die 'Schwachstelle' der Wand heranführt. Vom Einstieg mit Drahtseil und allem Drum und Dran sind es dann kaum noch 400 Hm bis zum Gipfel der Pyramide. Schwierigkeit A/B.
Das Nervensägenpärchen überholt mich endlich, als ich völlig außer Atem und keuchend kurz mal länger innehalten muss. Als hätte ich es geahnt, kommen sofort die ersten Steinchen von oben entgegen... Lass sie ziehen, Zing!

Nach etwas mehr als guten zweidreiviertel und etwas weniger als schlechten drei Stunden stehe ich dann auch auf der Pyramidenspitze. Hätte man mich vor dieser Tour danach gefragt, welcher der höchste Berg im Zahmen Kaiser sei, dann hätte ich Pyramidenspitze gesagt. Stimmt aber nicht! Es ist die Vordere Kesselschneid, die so gerade eben die 2000er Marke knackt und auch das nächste Zwischenziel auf dem Weg zur Winkelkarumrundung darstellt.

Merke: Pyramidenspitze verhält sich zu Stachus, wie Vordere Kesselschneid zu Dorfplatz am Ende der Welt. Kaum zwanzig Minuten von der Pyramidenspitze entfernt hat man einen ganzen Zweitausender ganz für sich alleine. Zwar gibt es kein Gipfelkreuz, aber die Dinger verstellen einem ohnehin nur die Aussicht....

Jetzt geht es richtig los. Die Literatur veranschlagt 45 Minuten für den Übergang von der Vorderen auf die Hintere Kessselschneid. Ich werde sogar eine viertel Stunde länger benötigen und das kommt so: Gleich beim ersten Abstieg auf den Grat verliert sich bereits die Spur. Es könnte rechts durch die steilen Schrofen gehen. Tut es aber nicht, was ich leider erst nach dem erfolglosen Versuch realisiere. Also wieder hoch, zurück und neuer Versuch. Tatsächlich klettert man, für den Anfang recht exponiert, auf einer Felsnase ab (II). Dann steht da wieder eine Wand im Weg. Dieses Mal umgeht man die wirklich rechts in den steilen Schrofen, um dann gleich sehr steil über Gras wieder zum Grat zu gelangen. Von dort sportlich (II) wenige Meter weiter direkt auf den Grat hinauf und auf dem Grat weiter. Nun weiter mit erneutem Höhenverlust. Steinmänner sind von zufälligen Gesteinsablagerungen kaum zu unterscheiden. Der Fels ist hier brüchig. Jenseits geht es über steile Grasschrofen wieder aufwärts. Jetzt ist es nur noch ein Spaziergang auf der grünen Wiese. Die Hintere Kesselschneid erreicht man über einen fünfminütigen Abstecher nach Süden. Die Gemsen kommentieren mein Eintreffen auf dem Gipfel mit einem fröhlichen Fauchen...

Gipfel sind hervorragend geeignet, um innezuhalten und nochmal nachzudenken. Ob das jetzt noch schlimmer wird mit dem Weg? Sieht ja noch ganz schön weit aus, oder? Poh, und die steilen Grasfluchten erst! Zurück ist schlussendlich die schlechteste Option von allen und so ziehe ich zurück zum Grat und weiter nach Osten. Anfänglich ist es nun ein weniger schwieriges Schaulaufen an der Grasnarbe direkt auf der Kammlinie. Später nimmt der Kalk dann wieder zu. Es gilt noch so einige Kletterstellen (meist I) zu überwinden, mal direkt über dem Abgrund des Winkelkars und dann wieder über den steilen Grasflanken der Südseite.

Dann tauchen jedoch völlig unvermittelt die Höchstschwierigkeiten auf: Latschenkiefern!
Zwar hat ein freundlicher Zeitgenosse hier eine Schneise geschnitten, aber die Dinger schlagen dennoch mit Nadeln und Ästen auf mich ein. Wirklich unangenehm wird es, als ich geduckt unter Latschen hoch über der Wandflucht des Winkelkars über ein fußbreites Grasband balancieren muss. Noch nie war ich so froh endlich wieder auf einem entspannend schmalen Grat zu stehen. Da lass ich mich doch glatt lieber von Paco durch die Flora Bora aufwärts ziehen...

Und jetzt steht sie wirklich vor mir, die echte und einzig wahre Schlüsselstelle: der Aufstieg auf den Roßkaiser. Ganz gleich wie lange ich das Ding anstarre, mir will keine Lösung einfallen. Also nähere ich mich dem Problem iterativ und siehe da, es ist doch gar nicht so schwierig. Im Gras sind Trittspuren auszumachen und die Schrofen sind erstaunlich bombenfest. Selbst der gelegentliche Blick in die Tiefe ist möglich. Relativ unspektakulär erreicht man einen Riss - wie das in der Literatur zu einem Kamin wird verstehe wer immer das will - über den man unschwierig (II) zurück auf den Grat gelangt. Und schon ist man auf dem Gi... nee, doch noch nicht. Vor den Gipfel hat der liebe Gott eine weitere Kalkmauer gestellt, die man unter Höhenverlust auf Schrofen umschiffen kann oder auf schmalem Band ohne Höhenverlust umgeht. Ich entscheide mich gegen den Höhenverlust. Aber jetzt, endlich Roßkaiser und Gipfel!

Mit zwei weiteren Besuchern bin ich mir schnell einig, dass der Roßkaiser eigentlich nicht ins Internet gehört, aber wer liest schon die zinglogs?
Ich ratsche mit den wenigen Auserwählten, the chosen few...

Den Kleinen Roßkaiser nehme ich beim folgenden Abstieg noch mit. Dort gibts einen schönen Biwakplatz für zwei, sogar mit Grill! Dann geht es hinab durch steiles Gras, eine Schuttrinne und Latschen bis man auf den Weg stößt, der weit unterhalb der Gratscheide und viel leichter von der Pyramidenspitze herführt. Dort ist auch ein kleiner Bach, an dem man die Wasserflaschen füllen kann. Als ich ganz unten bin, bedeutet mir ein Schild, dass ich wieder hinauf muss, hinauf in die Latschen, um den weiten und heißen Weg zum Jöchl anzutreten. Die letzten vier Stunden werden zu den heißesten der gesamten Tour. Die eben aufgefüllten Wasserflaschen schaffen es nicht einmal bis zum Jöchl. Beim kurzen Gegenanstieg direkt in das Jöchl muss ich dreimal stehen bleiben...

Bei der verfallenen Jöchlalm gibt es kein Wasser! Etwas unterhalb entspringt dagegen ein schwaches Rinnsal dem Fels und ergießt sich in ein überdimensionales Bachbett. Ich gönne mir die viertel Stunde, um die Literflasche zumindest halb aufzufüllen und in einem Zug zu leeren...

Zurück am Ausgangspunkt ist dann aber alle Mühe schnell vergessen. Rasch noch eine Katzenwäsche im üppigen Brunnen der Wassergemeinschaft Durchholzen (die Weingesellschaft wäre mir auch ganz recht) und dann geht es zurück auf die Piste. Im Inntal öffnet der Himmel bereits alle Schleusen...

Zur Schwierigkeitsbewertung: Die Literatur nennt hier T6/II. Einige Hikr kommen nur auf 'coole' T5/I, erwähnen im Text aber dann doch die IIer-Stelle(n). Ich komme heute auf T6- und die II.
 
Die Gratüberschreitung von der Vorderen Kesselschneid zum Roßkaiser sollte man nur bei stabilem Wetter und trocken Bedingungen antreten. Notabstiege über die südlichen Grasflanken sind sicher ein ganz besonderer Thrill, aber wer will das schon?


Zing • 15. August 2021