Bergtour zum Kotzen, Stierjoch und östl. Torjoch

untrainiert und übermotiviert

Seit fünf Wochen war ich nicht mehr auf'm Berg. Zwischenzeitlich kam die Befürchtung auf, dass ich nie wieder in die Berge gehe und sich möglicherweise eine alpine Depression anbahnt. Als dann aber zu Beginn der Woche der Wetterbericht Sonnenschein am Samstag orakelt, bin ich wieder völlig aufgekratzt. Nach der langen Bergpause möchte ich es ruhig angehen lassen und auch nicht gleich eines der Traumziele vom kleinen, gelben Klebezettel verbrauchen. Ein Studium der Sammlung von gpx-Files offenbart ein Loch im Vorkarwendel. Irgendwann gab es da einmal eine SST auf den Lerchkogel, aber alles westlich davon bis zum Schafreiter ist terra incognita.

Kotzen klingt nicht besonders toll, verspricht aber Bergeinsamkeit. Eine Rundtour im Weiteren über Stierjoch, östliches Torjoch und vielleicht noch Lerchkogel ist schnell ausgedacht. Und tatsächlich wird das Wetter so, wie vom Wetterbericht vorausgesagt...

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:

weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Vorkarwendel


Kotzen 1.771m, Stierjoch 1.909, östl. Torjoch 1.818m

Kotzen Nieder- und Hochleger, Lerchkogel Hochleger

Wanderparkplatz Fall (16h @ 5,-€)


Wandern: T3 (siehe Text)      Klettern UIAA: -/-        Klettersteig: -/-         Schneeschuhe: -/-

1.368m / 711m

13,6km


06h47m

Eine Maximaltätowierte mit penetrantem Eau de Toilette Geruch marschiert hastig vorbei, als ich gerade mit dem GPS noch ein paar Satelliten suche, bevor auch ich los darf. Auf der öden Teerstraße wandere ich nahezu gedankenlos immer tiefer ins Vorkarwendel. Alle fünf Minuten prüfe ich den Fortschritt auf dem GPS. Solche Hatscher wollen einfach kein Ende nehmen.

Noch eine Kurve bis zum Abzweig von der Teerstraße. Als ich um die Ecke biege, ist da wieder die Maximaltätowierte und sucht den Abzweig. Ich gehe vorbei, halte dabei die Luft an, und biege nach rechts ab. Sie folgt mir in einigem Abstand. Schade, ich dachte ich könnte hier allein sein.

Es gibt Bergwanderer, die allein schon durch das energische Aufsetzen der Wanderstöcke auf dem unschuldigen Boden Stressreaktionen bei mir auslösen. Als der Weg auch jedem weniger geschickten Bergwanderer wieder kalr sein muss, holt die Stresserin auf. Ich lasse sie wortlos und besonders gerne vorbei.

Leider bleibt schon nach einer Kehre stehen und fotografiert das einzige Hinweisschild "zum Kotzen". Sie möchte mich jetzt vorbeilassen und fragt dabei:

"Gehen Sie auch zum Kotzen?"

"Ja, aber eigentlich müsste ich zuerst dringend auf die Toilette."

Nach einigen langen Denksekunden kann sie antworten: "Ich verstehe", und geht endlich weiter. Beim Kacken kann man so herrlich Abstand von der Welt nehmen.


Der penetrante Parfumgestank hängt noch lange in der Luft. Kaum ein Lüftchen bewegt sich. Das Wetter wird heute nicht nur schön, sondern sogar heiß. Gestern noch habe ich mit einer Kollegin in Frankreich darüber gesprochen. Nachdem ihr wochenlang zu kalt war, meinte sie nur, dass es jetzt wieder zu heiß sei. Ich fand die Einstellung etwas negativ, kann das heute aber gut nachvollziehen. Noch vor dem Kotzen Niederleger muss ich das erste Mal zur Flasche greifen - mit Wasser versteht sich!

Dann trete ich aus dem lichten Wald ins Freie und kann bereits den restlichen Teil des Weges zum Kotzen erkennen, einschließlich steilem Grasband, das zur Gratschneide leitet. Die Stresserin ist nur noch ein hektischer, rosa Punkt im weiten Land der Latschenhochfläche.


Die Grasschneise zweigt nach rechts ab. Jetzt wird es steil. Der Schweiß kann sich nicht mehr zurückhalten. Die letzten 100 Höhenmeter sind in der prallen Sonne recht anspruchsvoll. Der Zugang zum Grat will auch noch gefunden werden. Das Gelände ist unübersichtlich. Da schimmert das Gipfelkreuz durch eine Latschenlücke und nach wenigen Schritten erfolgt die Erlösung. Auf dem menschenleeren Gipfel weht ein erfrischender Wind, der alle fremden Gerüche fortweht!


Nach drei Stunden brauche ich jetzt eine Pause. Die ersten 1,5 Liter Wasser sind danach weg. Bleibt noch ein Liter für den restlichen Weg. Könnte knapp werden.


Das Stierjoch scheint zum Greifen nahe, aber bis dorthin werden dann doch noch eineinviertel Stunden vergehen. Die Sonne brennt mittlerweile unerbittlich und sorgt für harsh light. Der Fotoapparat wird jetzt, da die Natur nur noch schmuddelige Farben abliefert, auf Schwarzweiß eingestellt.

Der Abzweig zum Stierjoch ist unscheinbar, leicht zu übersehen und zunächst durch Krummholz etwas ruppig. Gedanklich setzte ich mich an dieser Stelle zum ersten Mal mit der Schwierigkeitsbewertung auseinander. Vielfach findet man in Beschreibungen dieser Tour eine T2. Das ist nach meiner Einschätzung zu wenig. Der Weg ab dem Abzweig im Tal bis zum Stierjoch ist nicht markiert. Zum Teil verliert sich die Spur im hohen Gras. Hinweisschilder gibt es nicht. Im steilen Aufstieg zum Stierjoch gibt es kleinere Felsstufen, die Zupacken verlangen. Um gerade ungeübten Komoot-Wanderern den richtigen Eindruck zu vermitteln, ist T3 die korrekte Bewertung. Diese ausgedehnte Runde ist eine anspruchsvolle Bergwanderung, auf der Turnschuhe nichts mehr zu suchen haben.


Auf dem schmalen Gipfel des Stierjoch sonnt sich die maximal tätowierte Stresserin. Zwei Fotos vom Ausblick und ich bin weg. Tatsächlich wird es jetzt erst richtig schön. Der Übergang vom Stierjoch zum östlichen Torjoch gehört zu den aussichtsreichsten Abschnitten der Tour. Die stelen Abbrüche nach Norden liefern imposnate Tiefblicke auf die Ludernalm. Leider ist die Fernsicht durch Wüstenstaub wieder einmal begrenzt.

Am Gipfelkreuz des östlichen Torjochs ist dann auch der letzte Tropfen Wasser verbraucht. Der diesige Blick auf den Lerchkogel lässt mich meine ursprüngliche Planung überdenken. Auf dem Lerchkogel war ich schon und bei den Almen gibt es bestimmt Wasser. Die Zeichen stehen auf Abstieg, und der wird auch noch lang genug dauern.


Auf dem Lerchkogel Hochleger steppt der Bär. Junge Rinder springen umher und die Hirten prosten mir mit Augustiner zu. Was für eine Party. Beim weiteren Abstieg hole ich eine Bäuerin ein, die mir sogar das Gatter offen hält. Wir kommen ins Gespräch über die Hitze, den Almauftrieb und mögliche Brunnen am Lerchkogel Niederleger. Als sie mich dann völlig unerwartet fragt, ob ich mit ihr im Auto nach Fall fhren möchte, errechne ich in Sekundenbruchteilen aus der Lufttemperatur (27°C), 500 Höhenmetern Abstieg und einem Forststraßenhatscher von 10 km die Antwort: "Ja!"


Ich lerne noch viel während dieser Autofahrt durchs Vorkarwendel, z.B. über die verfehlte Naturschutz- und Landwirtschaftspolitik der zumeist Grünen Städter. Das Einzäunen von Hochmooren führt zum Austrocken derselbigen, weil das Vieh den Boden direkt am Zaun verdichtet und so dem Moor den Wasserzufluss abdreht. Anbindehaltung sei über einen begrenzten Zeitraum nicht unbedingt schlecht. Bei der Freilaufhaltung von Rindern kommt es hingegen leicht zu Dominanzverhalten in der Herde, und darunter leiden wieder einzelne Tiere. "Wer Anbindehaltung nicht kann, der wird auch Freilaufhaltung nicht besser machen." Ich stelle mir dann die Frage, warum die Grünen aus der Stadt mit ihrer Walldorfbildung und dem veganen Gewissen nicht einfach Mal die Landwirte fragen, die sich über viele Generationen hinweg mit dem Thema befassen und sicher auch besser auskennen. Einfach mal gut zuhören!


Wir verabschieden uns in Fall. Ich habe eine Stunde gewonnen, die ich nun im Stau auf der A99 verbringen darf.


Zing • 29. Juni 2024