Buchbesprechung - Endymion
Die logische Fortsetzung von Dan Simmons' Hyperion-Gesängen?
Meine erste Lesung von „Endymion“ konnte ich bereits vor zwei abschließen. Für die rund 1.400 Seiten habe ich nur drei Wochen benötigt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass das neben den vielen anderen Interessen und Aufgaben gelungen ist. Aber das Buch ist jede Seite und jeden Cent = Doppelpfennig wert.
„Endymion" stellt die Fortsetzung der „Die Hyperion-Gesänge“ dar und besteht aus den zwei Büchern „Endymion - Die Pforten der Zeit“ (1996) und „Endymion - Die Auferstehung (1997). Dan Simmons hat sich also sechs Jahre Zeit für die Fortsetzung gelassen.
Die Handlung setzt ca. 270 Jahre nach dem Schluss der Hyperion-Gesänge und dem Fall der Hegemonie ein.
Gleich zu Beginn stirbt der Hauptdarsteller Raul Endymion. Eine Finte, wie sich herausstellt und von keinem Geringeren als Martin Silenus inszeniert. Martin Silenus überträgt Raul Endymion die Aufgabe das Mädchen Aenea, die Tochter von Brawne Lamia, aus den Zeitgräbern abzuholen und fortan zu beschützen. Wovor beschützen? Die dunkle Seite wird durch den Pax repräsentiert und der Pax ist nichts anderes als die römisch katholische Kirche…
Mehr möchte ich hier auch überhaupt nicht herumstammeln. Die Anfertigung einer zutreffenden Zusammenfassung dieser 1.400 Seiten auf der Rückseite einer Briefmarke würde mehr Zeit beanspruchen als mir vielleicht noch übrig bleibt. Es ist so, als ob ein Computer, der das gesamte Universum berechnen soll, größer sein müsste als eben jenes Universum, von dem er nur ein Teil ist.
Mir ist dennoch wichtig herauszustellen, warum es so lohnenswert ist sich diesen „Endymion“ unbedingt zu lesen.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende
„Die Hyperion-Gesänge“ haben mich mit vielen Fragen zurückgelassen. Die Hegemonie war zwar nach der Zerstörung der Farcaster und der Vertreibung des Core zerbrochen, aber was bitte kommt danach? Wo sind die ganzen Menschen geblieben, die in die Zeitgräber hineingegangen sind? Was geschieht mit Sol Weitraub und seiner rückwärts alternden Tochter Rachel? Die persönliche Geschichte von Het Masteen wurde nicht erzählt. Er verschwand, kam zurück und starb. Welche Rolle spielen die Ousters? Woher kamen sie?
Die Liste der Fragen, die „Die Hyperion-Gesänge“ hinterlässt, ist lang. Und „Endymion“ gibt auf (fast) alle Fragen eine Antwort.
Oft erlebe ich ein Aha-Erlebnis. Dan Simmons aber ist schlau. Die erste Antwort ist oft nicht immer richtig. Viele Antworten nimmt man aus der Perspektive von Raul Endymion auf. Auch für den Hauptdarsteller setzt sich die Wahrheit immer wieder neu zusammen, Einzelheiten werden revidiert oder in ein anderes Licht gerückt, und zuletzt weiß Aenea immer alles besser (Frauen…).
Auf diese Weise nimmt man am Lern- und Erkenntnisprozess von Raul Endymion teil. Die allwissende Gottesperspektive gibt es nicht.
Das ist eine sehr wirksame Methode, die Dan Simmons da einsetzt, um die Spannung über 1.400 Seiten aufrecht zu erhalten. Sogar der letzte Satz beantwortet noch eine Frage. Genial.
Unter dem Strich bleiben nach der Lektüre von „Endymion“ kaum noch Fragen offen und die Ungereimtheiten der „Hyperion-Gesänge“ finden eine zufriedenstellende Auflösung.
Leider fehlt ein Happy End, aber das Universum ist schließlich kein Ponyhof.
Bleiben noch Ansatzpunkte für eine weitere Fortsetzung bestehen? Schwierig, dafür wurden möglicherweise zu viele Fragen beantwortet und die Schicksale zu vieler Protagonisten aufgelöst.
Ein Wiedersehen mit alten Bekannten, Begriffen und Konzepten
So ziemlich jede wichtige Figur aus den „Hyperion-Gesängen“ hat auch in „Endymion“ irgendwann ihren Auftritt oder findet zumindest eine klärende Erwähnung. Ohne das Shrike geht sowieso nichts und das Böse hinter dem Bösen, lebt in Form von Berater Albedo wieder auf. Der berät nun nicht mehr die Hegemonie, sondern den Pax, sozusagen übernimmt er das Consulting für den Rechtsnachfolger der Hegemonie.
Man findet sich als Leser schnell im Universum zu Zeiten des Raul Endymion zurecht. Die Kruziformen gibt es weiterhin und wer sie nicht kennt, der wird innerhalb eines halbseitigen Abschnitts wieder auf Spur gebracht.
Der Himmel über Hyperion ist immer noch lapislazulifarben. Das nervt. Warum ist er nicht einfach blau, nee, der ist lapislazulifarben. Bin ich froh, als Endymion und Aenea endlich diesen kacklapislazulifarbenen Planeten in einer wilden Verfolgungsjagd verlassen. Die Himmel der anderen Planeten weisen wenigsten normale Farben auf.
Zum Glück ist A. Bettik, ja der Androide vom Flussschiff der „Hyperion-Gesänge“, lediglich blau und nicht lapislazulifarben. A. Bettik begleitet nämlich Endymion und Aenea auf den gesamten 1.400 Seiten und ich hätte das nicht durchgehalten, wenn seine Haut jedes Mal als lapsilazulifarben beschrieben worden wäre…
Und dann ist da noch die Bindende Leere. In den „Hyperion-Gesängen“ faselt Sol Weitraub darüber. Er setzt die Liebe mit der Bindenden Leere gleich. Ein Technokrat, wie ich nun einmal einer bin, überliest solche Stellen völlig emotionslos.
Als Aenea jedoch Wahrscheinlichkeiten und Wellenfunktionen ins Spiel bringt, werde auch ich endlich von dem Konzept der Bindenden Leere abgeholt. Die Bindende Leere ist quasi die Leinwand, auf der das Universum, so wie wir es wahrnehmen, gezeichnet wird. In kosmologischer Hinsicht ein schöner Gedanke, der vielleicht gar nicht so abwegig ist…
Dan Simmons erzählt gut
Wäre Dan Simmons nicht Schriftsteller sondern Komponist, so entsprächen die einzelnen Bücher der „Hyperion-Gesänge“ und des „Endymion“ einer Folge von Symphonien. Dan Simmons spielt mit einer Leichtigkeit die gesamte Klaviatur der Schriftstellerei. Erzählperspektiven werden gekonnt variiert. An geeigneter Stelle wird Lyrik eingebaut und wenn notwendig, wechselt er in den Dialogstil einer Theateraufführung.
Dan Simmons erzählt nicht nur gut, sondern recherchiert auch hervorragend. Der Gebirgsplanet Tien Shan besteht z.B. aus einer ganzen Reihe von Gipfeln und Gebirgen. Zu jedem dieser Gipfel und Gebirge existiert ein reales Pendant auf der Erde unserer Zeit. Da ist nichts erfunden.
Wer kennt Tom S. Ray? Ich kannte ihn nicht und habe gegoogelt. Mit seiner Softwareplattform Tierra hat er die erste Simulation darwinistischer Evolution möglich gemacht. Das war 1991.
Zugegebenermaßen endet hier auch schon der Bezug zur Realität, denn Aenea erklärt dann, wie aus dieser Tierra-Simulation der Core hervorgegangen ist. Dennoch, Tom Ray, sehr gut recherchiert.
Es existieren noch zahlreiche weitere Bezüge zu unserer Welt und man sollte im Zweifelsfall immer google oder wikipedia hinzuziehen, denn „Endymion“ ist keineswegs bloße Fiktion. „Endymion“ ist vielmehr der der Menschheit vorgehaltenen Spiegel, nur eben in einer fernen Zukunft.
Was bleibt?
Ich kann mir jetzt in diesem Moment kaum vorstellen ein anderes Buch zu beginnen. „Endymion“ klingt immer noch nach.
Das ist wie die erste Besteigung der Großen Zinne mit dem anschließend vier Wochen andauernden Glücksgefühl inklusive.
Immer wieder lese ich einzelne Abschnitte erneut, entdecke dabei Neues, verstehe mehr...
„Endymion“ ist ein großartiges Buch und Dan Simmons ist der Autor.