Unterberghorn minus Kohlental ergibt ca. 1.000 Höhenmeter. Schnappen minus Kohlental sogar nur 800 Höhenmeter. Das Unterberghorn selbst ist ja nur ein Siebzehnhunderter, also liegt dort oben so gut wie gar kein Schnee. Also schlage ich einem Freund sogar die gemütliche Wanderung auf den Schnappen mit Option auf Verlängerung zum Unterberghorn vor. Zu seinem Glück spricht etwas dagegen und ich ziehe alleine los.
Als ich bei einem Gehöft im Kohlental einen Wegweiser passiere, denke ich zunächst an „Touristengehzeiten“, als der Schnappen dort mit 3¾ h angegeben wird. Noch gar kein Hinweis auf das Unterberghorn?
Egal, auf der breiten Almstraße geht es schnell in die Höhe und dennoch fühlt sich jeder Fortschritt wie maximale Langsamkeit an. Als ich nach ziemlich exakt einer Stunde die Stubenalm erreiche ist die Welt auch noch in Ordnung. Die Stubenalm liegt auf einer Höhe von 1.030 m. Folglich sind es nur noch 1¼ h bis zum Schnappen bzw. 1¾ h bis zum 200 Meter höheren Unterberghorn. Alles klar.
Nach etwas mehr als 1½ h ist dann die Untere Schnappenalm auf 1.330 m erreicht?! Noch 200 Hm zum Schnappen, also noch eine zusätzliche halbe Stunde, insgesamt also 2 h. Das würde ja passen. Etwas oberhalb der Unteren Schnappenalm trifft man heute auf erste nennenswerte Schneereste, die sich aber noch gut umgehen lassen. Maximal dauert es dadurch höchstens zehn Minuten länger. Ich hab ja Zeit auf dieser gemütlichen Wanderung und bin schon jetzt total durchgeschwitzt.
Nach 1h50m stehe ich am Abzweig zum Schnappen. Vor mir erstreckt sich ein weites Schneefeld mit einer sehr alten Schneeschuhspur. Dahinter ragt das Unterberghorn auf. Es ist an der Zeit eine Entscheidung zu treffen. Der Schnappen ist in gefühlten fünf Minuten erreichbar. Die Höhendifferenz zum Unterberghorn beträgt von hier aus auch nur noch 300 Hm. Die ¾ h schaffe ich doch locker, oder? Was nun also? Im wahrsten Sinne des Wortes lasse ich den Schnappen links liegen, betrete die weite Schneefläche und sinke nach ein paar Metern sogleich bis zu den Knien ein. Kann ja nicht so lange dauern. Da hinten müsste doch schon die Lackalm sein.
Und nach einer ¾ h ist die Lackalm erreicht. Ich brauche erstmal eine Pause, um die nassen Socken auszuwringen. Nur gut, dass ein Online-Tagebuch noch keine olfaktorischen Sinneseindrücke festhalten kann. Da hinten steht der Wegweiser zum Unterberghorn. Nur für Geübte! O.k., das soll nicht das Problem sein. Was, noch 1¼ h? Das sind doch gerade einmal nur noch 400 Hm.
Ich verliere keine Zeit und steuere ein höher gelegenes Almkreuz an, um danach noch einmal 150 Hm zu verlieren. Erst jetzt geht es richtig los zum Unterberghorn. 12:00 Uhr ist Bingo! Das sind noch 1¼ h.
Nach den letzten Schneeflecken führt der gut markierte, aber nur undeutlich erkennbare Weg steil durch einen morschen Buchenwald. Ob das schon ‚nur für Geübte‘ ist?
Die scharfe Grenze zwischen Wald- und Latschengürtel ist auch bald erreicht. Man muss erstmals die Hände zur Hilfe nehmen, um eine felsige Wegstufe zu überwinden. Ob es deshalb ‚nur für Geübte‘ ist?
Durch den Latschengürtel geht es jedoch fast schon bequem und rasch höher, bis man zu einem Abbruch gelangt. Dahinter verbirgt sich ein unüberwindlicher, steiler Graben. Der Weg durch die Latschen führt jedoch geschickt um den Grabenansatz herum, auf ein weiteres Latschenband, das sich eng an eine Felswand schmiegt. Also das reicht auf keinen Fall für ‚nur für Geübte‘!
Der Weg wird schmaler. Rechts pfeift es luftig abwärts. Da taucht plötzlich vor mir eine Drahtseilsicherung auf. Die führt an einer ausgesetzten Stelle über dem Grabenansatz einige Meter hinab. Also deshalb ‚nur für Geübte‘.
Der Weg beruhigt sich zunächst, bis ein weiteres Drahtseil erneute Schwierigkeiten andeutet. Meine Sinne werden erst wieder geschärft, als das Drahtseil am zweiten Sicherungspunkt abrupt endet. Von dort an stecken nur noch einige, wenige Stahlstifte im bröseligen Fels. Umkehren will ich deshalb jedoch nicht. Ich drücke mich auf einem fußbreiten Band vom splittrigen Untergrund über einen ausgesetzten Quergang entlang. Viel Halt für die Hände gibt es hier nicht. Diese Stelle könnte man schon gerne mit T4 bewerten. Nach bangen 20 Metern stehe ich auf der anderen Seite. Dort hängt ein sorgsam aufgerolltes Drahtseil. Was das wohl zu bedeuten hat? Das war definitiv ‚nur für Geübte‘!
In meinem Kopfkinofilm wird es ab jetzt sicher deutlich leichter. Weit gefehlt. Man biegt nach links in eine steile Grabenflanke ein. Hier liegt Schnee. Nasser Schnee! Der Schnee macht alles gleich und man kann den Weg nur stellenweise noch als solchen erkennen.
Mit angehaltenem Atem gehe ich die Traverse an. Ich stampfe den Schnee fest, um zumindest das Gefühl eines sicheren Tritts zu haben. Wenn es hier ein Gleitschneeproblem geben sollte, dann habe ich zumindest nur noch kurz ein Problem und dann nie mehr irgendwelche Probleme…
Zwischen den Schneeflecken treffe ich nicht immer exakt den sehr schmalen, ausgesetzten Weg. Oft gelange ich ins nasse Steilgras. Alles sehr spannend. Dort sind wieder Stahlstifte im Boden bzw. Fels. Ein Drahtseil fehlt jedoch. Noch ein sehr steiles Schneefeld ist zu queren, bevor endlich zwei wie die Rettung erscheinende Eisentreppen erreicht sind. Für einen kurzen Moment rutscht der rechte Fuß etwas tiefer in der zweifelhaften Schneeauflage. Ich glaube fest daran, dass ich dabei mindestens drei Herzschläge ausgelassen habe. Bin ich froh als ich die unterste Stufe der ersten Eisentreppe erreiche. Endlich wieder atmen und nicht mehr die ganze Zeit über die Luft anhalten. Das war jetzt schon mehr als ‚nur für Geübte‘!
Ein Blick aufs Navi offenbart, dass es noch 100 Hm bis zum 1.773 m hohen Unterberghorn sind. Nun, die beiden Treppen noch und dann ist es bestimmt bald geschafft…
Jenseits der beiden Eisentreppen raubt mir eine steile Grasrinne durch die Latschen den letzten Nerv. Der Schnee gibt nun gar nichts mehr her. Bis zu den Hüften im Schnee wühle ich mich höher und schimpfe wie ein Rohrspatz. Zuletzt wird die Rinne im steiler, nasser, beschissener… Endlich kann ich nach rechts aussteigen. Noch ein paar Meter und ich treffe auf den Weg, der von der Seilbahnstation zum Gipfelkreuz führt. Bingo ist da schon um fünf Minuten überschritten.
Ein Abstieg nach Kössen wäre jedoch weit. Die Seilbahn ist keine Alternative. Und wie kommst Du dann von Kössen über Schwendt nach Kohlental? Bus? Taxi?
Ich verwerfe alle diesbezüglichen Gedanken, fotografiere die trübe Aussicht und steige vorbei am ‚Teilsicherungshinweisschild‘ wieder ab. Der Schnee ist jetzt noch nasser. Lustiger wird’s auch nicht. Als ich auf der untersten Stufe der Eisentreppe stehe, nehme ich Bewegung am anderen Ende der Hangtraverse wahr.
Wir treffen uns so ziemlich in der Mitte. „Sind Sie den Weg schon mal gegangen?“ Na toll, in der Weltstadt ohne Schmerz duzt mich respektlos jeder Zu- bzw. Eingewanderte, aber hier im entlegensten Gebirge siezt der mich! Er entpuppt sich als Gleitschirmpilot. Die Fragestellung nach dem Abstieg ist für ihn also schon beantwortet…
Wer hat eigentlich gesagt, dass es abwärts schneller als aufwärts geht? Völliger Blödsinn! Nach vier Stunden reiner Gehzeit für den Abstieg werde ich 3¾ h für den Abstieg benötigen. Das Einzige was mich dabei positiv stimmt, ist, dass jetzt die Sonne herauskommt. Mir gelingt eine schöne Weitwinkelaufnahme vom ‚Unterberghorn mit blühender Erika‘. Ich ordne das sogleich dem Weitwinkelteilprojekt von
Projekt 12 zu (s.u.). Als das Bild im Kasten ist, mein Gesicht mit Sonnencreme eingecremt und die Sonnenbrillen aufgesetzt, da schiebt sich auch schon eine breite Wolkenfront vor die Sonne. Was für eine ungemütliche Bergwanderung!
Irgendwie bin ich froh, dass der Freund diesmal keine Zeit hatte. Vielleicht hätte ich durch bzw. auf dieser Tour sonst noch einen Freund verloren, im einen wie anderen Sinn…
Gemütlichkeit und Bergwandern, beides muss ich erst noch lernen. Und beim Rechnen werde ich mir Zukunft so einige Vereinfachungen verkeifen!